Donnerstag, 24. Februar 2011

SEI NACHT FÜR MICH

Sei Nacht für mich,

sei mir das Große,

sei mir das große Namenlose,

sei es, und zerreiß mein Ich.

Sei Nacht für mich!


Sei Nacht für mich!

In allen Herzen

zünde an die schwarzen Kerzen,

und dann - tief im Schweigen - sprich!

Sei Nacht für mich!


Sei Nacht für mich

bis an das Ende.

Hinter jeder Sonnenwende

schläft ein Frühling fürchterlich.

Sei Nacht für mich!


Sei Nacht für mich,

sei mir für immer,

sei mein letzter Lebensschimmer!

Sei mir, was du bist für dich.

Sei Nacht für mich!


Sei Nacht für mich!

Sei mir das Schweigen,

hinter dem sich Sterne zeigen;

und der Mond verdunkelt sich.

Sei Nacht für mich!


Sei Nacht für mich,

sei mir das Schöne

im Gewimmel aller Töne.

Singe mir, ich bitte dich!

Sei Nacht für mich!


Sei Nacht für mich,

sei mir das große

unsagbare Namenlose.

Sei mir, was du bist für dich.

Sei Nacht für mich.


Dienstag, 22. Februar 2011

HANNO MUSS ZUM ZAHNARZT

Hanno verlor fast den Verstand. Das beständige Pochen und Wummern in seinem Unterkiefer brachte ihn zur Weißglut. Am liebsten wollte er seinen Kopf wieder und immer wieder gegen eine Wand schlagen.
Aber vielleicht, sagte er sich, würden es auch erst mal ein paar Ibuprofen tun, um die Zahnschmerzen zu lindern.
Gedacht, getan.
Hanno warf gleich drei Schmerztabletten ein. Zur Sicherheit. Und mit einem Becher starken Kaffees spülte er sie hinunter.
Nach einer Stunde war Ruhe. Hanno fühlte sich leicht benommen und legte sich hin.
Er schlief fast drei Stunden lang, dann weckten ihn die aufs Neue die Zahnschmerzen. Sie schienen ihm noch heftiger zu sein als zuvor, und leise jammerte Hanno vor sich hin, als er, die Hand gegen die Wange haltend, in die Küche schlich, wo Gertrud, seine Frau, gerade Kartoffeln schälte.
„Na, läßt sich der Herr auch mal wieder blicken?“, fragte sie zynisch, ohne ihn anzusehen.
„Uhuhuh, ich habe Zahnschmerzen“, wehklagte Hanno und trat vor seine Frau hin. Er wollte, daß sie ihn wahrnahm, daß sie seine Schmerzen und sein Elend sah, und daß sie sich um ihn sorgte wie damals seine Mutter. Er wollte einen großen Eisbecher oder ein Stück Schokolade, obwohl das vielleicht nicht so gut war für seinen Zahn. Auf jeden Fall war er ein Mann im Schmerz, und er wollte bemitleidet werden.
Doch Gertrud, die ihren Gatten in zwanzig Jahren Ehe gut kennengelernt hatte, spielte nicht mit. „Geh doch zum Zahnarzt“, erwiderte sie ungerührt und legte eine geschälte Kartoffel in den Topf mit dem Wasser.
„Aber ich habe Zahnschmerzen.“ Hanno war den Tränen nahe.
„Das sagtest du bereits“, sagte seine Frau. „Du hast zwei Möglichkeiten. Zum Zahnarzt gehen oder es aushalten.“
„Aushalten?“ Hannos Stimme bebte vor Furcht.
„Den Schmerz.“
„Zahnarzt?“ Die Furcht wuchs an zum blanken Entsetzen.
„Die Nummer von Dr. Breuer findest du ihn den Gelben Seiten, und nun laß mich in Ruhe. Ich muß Kartoffeln schälen.“
Hanno schluckte und kratzte sich hilflos am Kinn. Aber seine Frau nahm keine Notiz mehr von ihm.
„Also gut“, seufzte er. Schließlich war er ein Mann. „Dann will ich mal Dr. Breuer anrufen.“ Und er ging hinüber in die Stube.
In der Stube auf dem Schreibtisch lagen die Gelben Seiten, und Dr. Breuer war schnell gefunden. Weil sein Name mit einem B begann, stand er schon an zweiter Stelle in der Liste der Zahnärzte, gleich nach einem gewissen Dr. Ast.
Die ganze Familie, inklusiver seiner Schwiegereltern, war bei Dr. Breuer in Betreuung. Hanno fühlte sich kurz versucht, gegen seine Frau und die Familientradition zu rebellieren und Dr. Ast anzurufen. Doch die Vernunft siegte, und er rief die Praxis Breuer an.
Die Sprechstundenhilfe meldete sich schon nach dem zweiten Klingeln. Das war nicht gut. Das war viel zu schnell gegangen. Hannos Atem ging unregelmäßig und sein Herzschlag beschleunigte sich.
„Zahnarztpraxis Breuer, was kann ich für Sie tun?“ Die Stimme der jungen Frau am anderen Ende der Leitung klang nett und verbindlich.
„Ja“; stammelte Hanno, „hier ist Müller, Hanno Müller.“
„Hallo, Herr Müller“, sagte die Sprechstundenhilfe, „Wie kann ich Ihnen helfen? Brauchen Sie einen Termin?“
„Nun, ja“, meinte Hanno und versuchte, ungewiß zu klingen.
„Einen Augenblick.“ Auf der anderen Seite der Leitung trat kurzzeitiges Schweigen ein. Dann meldete sich die Dame wieder. „Haben Sie Beschwerden, Herr Müller?“
Eine Frage wie eine Keule. Hanno stand wie vom Donner gerührt.
„Herr Müller?“ Die Sprechstundenhilfe am Telefon klang ein wenig besorgt.
Hanno rang nach Fassung und sagte: „Vielleicht.“
„Ich verstehe.“
Hanno meinte, die Sprechstundenhilfe kichern zu hören und runzelte die Stirn.
„Sie haben Glück, Herr Müller“, sagte nun die Sprechstundenhilfe. „Dr. Breuer hat noch heute nachmittag für Sie Zeit. Können Sie in einer Stunde hier sein?“
„In... in einer Stunde?“ Hanno kämpfte gegen eine Ohnmacht. „Gewiß“, keuchte er. „In einer Stunde. Gar kein Problem.“
„Gut“, flötete die Sprechstundenhilfe. „Dann bis gleich, Herr Müller.“
Ein Knacken in der Leitung zeigte an, daß sie aufgelegt hatte.
Auch Hanno hängte den Hörer wieder ein. Seine Knie waren weich wie Butter. Mühsam stakste er in die Küche, wo seine Frau inzwischen die Kartoffeln auf den Ofen gesetzt hatte.
„In einer Stunde habe ich einen Termin bei Dr. Breuer.“
Keine Reaktion von Hannos Frau.
„Ich habe einen Termin bei Dr. Breuer, dem Z-a-h-n-a-r-zt“, wiederholte Hanno und gab sich Mühe, das Wort „Zahnarzt“ so gedehnt wie möglich auszusprechen.
„Gut“, erwiderte Gertrud kurz.
„Ich muß mich dann auf den Weg machen“, sagte Hanno und wünschte sich, Gertrud würde ihn begleiten.
Aber die sagte nur: „Tschüß!“ Dann begann sie, Möhren zu schneiden.
Der Weg durch die Stadt war eine Hölle für Hanno. Er sah all die Menschen, die fröhlich und sorgenfrei an ihm vorüber gingen, während er, mitten im Elend verlassen und allein, durch die Straßen schlich, sich aufrecht haltend nur durch seinen reinen Willen, nicht als die Memme erkannt zu werden, die er war.
Hanno hatte schon als kleiner Junge große Angst vor dem Zahnarzt gehabt. Jeder Besuch bei diesem Doktor war mit Schmerzen verbunden gewesen, und weil Hanno als Kind sehr schlechte Zähne hatte, er liebte eben Lutscher und knabberte immer an diesen herum, mußte er oft zum Zahnarzt, und der bohrte jedes Mal.
Mittlerweile war Hanno Aufsichtsratsvorsitzender einer großen Firma und hatte eine bedeutende Rolle im Stadtrat inne, aber tief in ihm steckte immer noch Klein-Hanno, mit dem Dauerlutscher in der einen und dem Becher zum Mund-Auspülen in der anderen Hand, der sich einmal sogar wegen der Angst vor dem Zahnarzt naß gemacht hatte. Damals war er schon dreizehn Jahre alt gewesen.
Es war nicht nur der Schmerz, den Hanno fürchtete, denn die Schmerzen, die ihm sein Zahn im Augenblick bereiteten, waren schon groß genug. Es war das Ausgeliefert-Sein, dieser Stuhl, der einen in eine hilflose, halb liegende, halb sitzende Position brachte. Und dann kam da einer, um mit seltsamen technischen Instrumenten wer was in seinem Mund zu machen, während er nicht die geringste Kontrolle darüber hatte, denn schließlich sah er nicht, was der Zahnarzt da genau trieb. Und dann dieses Lächeln, dieses sardonisch-freundliche Zahnarztlächeln, das meist von dem Satz „Ach, so schlimm war das doch gar nicht“ begleitet wurde, das Hanno jedes Mal die Haare zu Berge stehen ließ.
Und dann immer dieses „Nun machen wir mal den Mund waaaaait auf“, gefolgt von einem Blick hinein in den Rachenraum, dem Herumkratzen an allen Zähnen. Dann das Stirnrunzeln zusammen mit einem „oh, oh“ (wobei der Vokal sehr kurz artikuliert wird) und einem Kopfschütteln. Und dann hatten sie noch einen Lieblingssatz, der Hanno bis ins Mark traf. „Sie hätten viel früher kommen müssen.“
Zahnärzte waren die schlimmsten Ärzte von allen. Sie waren in Hannos Vorstellung noch schlimmer als Neurochirurgen oder Proktologen. Vor allem, wenn sie lächelten, denn das bedeutete selten etwas Gutes.
Wenig später saß Hanno auf Dr. Breuers Behandlungsstuhl. Seine Kehle war trocken. Er atmete tief ein und aus, als Dr. Breuer sich über ihn beugte und mit einem Lächeln sagte: „Nun machen wir mal den Mund waaaaait auf!“
Dr. Breuer hatte, um die Patienten von der Behandlung abzulenken, ein schönes Bild an der Decke anbringen lassen. Es zeigte eine idyllische Seenlandschaft mit blauen Himmel und Wolken weiß wie Zuckerwatte. Über den See trieb ein einsames Boot, und im Hintergrund ragten schneebedeckte Berggipfel hoch auf. Hanno betrachtete dieses Bild eine Weile, bis Dr. Breuer die Lampe am Stuhl so positionierte, daß sie die Mundhöhle des Aufsichtsratsvorsitzenden gut ausleuchtete und diesem den Blick auf das Bild versperrte.
Hanno konnte jetzt nur noch in das weiße, unfreundliche Gleißen einer Energiesparlampe blicken.
Dr. Breuer indessen machte sich an den Zähnen zu schaffen. „Haben Sie Beschwerden, Herr Müller?“
„Ma“, machte Hanno, in dessen Mund sich beide Hände des Zahnarztes mit allen zehn Fingern und zwei metallischen Gegenständen befanden.
„Oh, oh, ich sehe es schon“, meinte Dr. Breuer und runzelte die Stirn. „Sie hätten viel früher kommen müssen.“
Hanno war den Tränen nahe.
Dann kam der schlimmste Satz von allen, an den Hanno kaum zu denken wagte.
„Hier läßt sich nicht mehr viel machen“, sagte der Zahnarzt und reichte Hanno einen Becher zum Mund-Ausspülen. „Der muß raus.“ Er ließ Hanno für einen Augenblick allein und ging an die Tür seines Sprechzimmers: „Fräulein Stein, kommen Sie bitte, ich brauche Ihre Hilfe.“
Sofort erschien die adrette Sprechstundenhilfe mit ihrem altertümlichen Häubchen und dem weißen Kittel, der kaum länger war als ihr Rock.
Hanno versuchte, sich aufzusetzen und rief: „Nein, nein, das will ich nicht! Können Sie mir nicht einfach was gegen die Schmerzen geben?“
„Herr Müller“, sagte Dr. Breuer mit väterlicher Stimme und drückte Hanno kraftvoll in den Behandlungsstuhl zurück, „der Zahn muß raus. Nun stellen Sie sich nicht so an! Wenn der Zahn draußen ist, werden Sie keine Schmerzen mehr haben. Und Sie bekommen von mir eine Spritze zur Betäuben. Sie werden nicht das Geringste spüren. Und nun entspannen Sie sich und schauen Sie sich das schöne Bild vom Starnberger See an.“
Hanno, nun wieder zurückgelehnt, starrte in das Licht der Energiesparlampe, die Dr. Breuer nicht beiseite genommen hatte. Der Starnberger See. Ludwig der II. war darin ertrunken. Hatte der nicht auch immer so große Beschwerden mit seinen Zähnen gehabt? Vielleicht, so ging es Hanno durch den Sinn, hatte sich der Märchenkönig ertränkt, um einer Behandlung durch den königlichen Zahnarzt zu entgehen. Hanno sehnte sich auf einmal sehr nach dem Starnberger See, obwohl er nie dort gewesen war. Es zog ihn einfach nicht nach Bayern. Aber vielleicht, wenn der „Kini“, wie Ludwig der II. liebevoll von seinen einheimischen Königstreuen genannt wurde, ein Bruder im Geiste war oder zumindest ein Genosse im Leid...
Hier mußte Hanno seinen Gedanken unterbrechen, denn Dr. Breuer nahte mit einer Spritze von absurder Größe. „Nun machen wir den Mund mal waaaaait auf! Waaaait auf, Herr Müller! Sie müssen schon mitmachen!“
Jeder Vernunft zum Trotze öffnete Hanno den Mund, und Dr. Breuer rammte ihm die Nadel mit aller Gewalt ins Zahnfleisch. „Das wird jetzt ein klein wenig drücken.“
Es drückte nicht. Es tat weh wie Hölle, und hätte Hanno nicht die Hände seines Zahnarztes und eine große Spritze im Mund gehabt, hätte er laut geschrieen. So aber entrang sich seiner Kehle nur ein dumpfen Ächzen.
„So, geschafft.“ Dr. Breuer rieb sich zufrieden die Hände und lächelte – bösartig, wie es Hanno erschien. „Jetzt warten wir zehn Minuten, bis die Betäubung wirkt.“
Zehn Minuten verstrichen, und Dr. Breuer kehrte zurück. Sofort machte er sich an Hannos Zahnfleisch zu schaffen und piekste ihn heftig mit einem nadelspitzen Instrument. „Spüren Sie das?“, fragte er dabei immer wieder.
„Ma“, machte Hanno hilflos.
„Hm“, sagte Dr. Breuer nachdenklich. „Die Betäubung wirkt nicht. Ich werde Ihnen noch eine Spritze geben. Fräulein Stein!“
Auch die zweite und eine dritte Betäubungsspritze brachten keine Wirkung. Der Schmerz wurde nur ein wenig gedämpft.
Aber Dr. Breuer ließ sich davon nicht abhalten. „Nun, aus irgend einem Grund sprechen Sie nicht so gut auf die Betäubung an. Aber wir schaffen das trotzdem.“ Und lachend setzte er hinzu: „Einfach die Zähne zusammenbeißen!“
Dann begann Dr. Breuer sein Werk. Mit einem zangenartigen Folterwerkzeug, um das ihn jeder spanische Inquisitor beneidet hätte, näherte er sich Hannos Mund und faßte beherzt zu. Er zog und rüttelte mit aller Kraft an Hannos krankem Zahn. „Oh, der sitzt aber fest“, keuchte er unter der Anstrengung, und Hanno verlor das Bewußtsein.
Als Hanno wieder zu sich kam, zeigte ihm Dr. Breuer stolz den herausgerissenen Zahn, der noch ganz blutig war. „Na, so schlimm war das doch gar nicht! Hier haben wir den Übeltäter!“, rief er. „Sie dürfen ihn mitnehmen, wenn Sie wollen.“ Er packte ihn in eine kleine Plastikschachtel und reichte ihm Hanno. „Legen Sie ihn sich heute abend unters Kopfkissen. Vielleicht kommt die Zahnfee vorbei und bringt Ihnen was Nettes dafür.“
Hanno dankte stumm und erhob sich.
„Ach, ehe ich es vergesse, Ihren Zahnstein müßten wir uns auch mal vornehmen.“ Ein Funkeln, das Hanno nicht anders als mordlüstern bezeichnen könnte, lag in Dr. Breuers Augen. „Lassen Sie sich, wenn Sie gehen, von Fräulein Stein einen Termin geben. Am besten schon nächste Woche.“
Hanno nickte nur und ging davon ohne Abschiedsgruß. Fräulein Stein hatte den Termin schon vorbereitet und drückte ihm im Hinausgehen den Zettel, auf dem Datum und Zeit vermerkt waren, in die Hand. „Auf Wiedersehen, Herr Müller, und bis bald!“
Draußen auf der Straße fiel die Furcht endlich von Herrn Müller ab. Bis zum nächsten Termin dauerte es noch eine Woche. Eine lange Zeit, in der viel geschehen konnte. In einer Woche konnte man sich sogar einen neuen Zahnarzt suchen, wenn man das wollte. Aber Hanno wußte, daß das Streit mit seiner Ehefrau brächte, und so würde er es bleiben lassen.
Nun wollte er sich auf den Rückweg machen, und passierte es. Die Wirkung der Betäubungsspritzen setzte ein. Mit solcher Wucht, daß Hanno sich setzen mußte, und zwar, weil keine Bank in der Nähe war, auf den Gehweg. Er hatte nicht das mindeste Gefühl mehr in seinem Gesicht, und vor seinen Augen drehte sich alles.
Mit buchstäblich letzter Kraft zog er sein Mobiltelefon aus dem Mantel und rief zu Hause an. „Gertrud, kannst du mich abholen. Ich war gerade beim Zahnarzt.“

Sonntag, 20. Februar 2011

LIED ZUR NACHT




Mein Großvater
ist eine Rose.

Er blüht
im Garten hinterm Haus.

Er zählt
für mich
die Sommer meines Lebens.

Ich lasse
die Dornen
meine Hände durchbohren.

Solche Schmerzen
überdauern
die Zeit.