Samstag, 24. Dezember 2011

WEIHNACHTSGRUSS 2011




Und eine Zeit wird kommen,
in der wir selbst
zu leuchten beginnen.

Unsere Lieder,
unsere Tränen
werden Sterne sein.

Groß werden wir singen
Über der Asche
Dem Eis
Und dem Dunkel

Und Blumen wachsen lassen,
wo unser Blut
die Erde berührt.




Montag, 19. Dezember 2011

GEGEN DEN PAPST - MIT DEM ÜBLICHEN PATHOS


Rezension: Rudolf Lill „Die Macht der Päpste“
erschienen bei Butzon&Becker GmbH, Kevelaer, im November 2011
ISBN: 978-3-7666-4147-2
EPUB ISBN 978-3-7666-4148-9
Preis: 19,95 Euro


Papst ist immer gefragt. Seit Benedikt XVI. auf dem Stuhle Petri sitzt, ist das ein Thema, dem gewißlich Aufmerksamkeit entgegengebracht werden wird. War kurz nach der wahl des deutschen Kardinals Josef Ratzinger zum Pontifex Maximus noch die Stimmung groß und voller Jubel, so ist die Freude der Deutschen an „ihrem“ Papst doch in den letzten Jahren merklich abgekühlt. Nach den Augenblicken patriotischer Freude wurde den Menschen mit einem Male wieder bewußt: Die katholische Kirche ist kein Platz der leichtfertigen Ausgelassenheit, sondern vielmehr eine alt-ehrwürdige Institution, mit Regeln, Dogmenund Traditionen, deren Sinn sich Außenstehenden oft nicht erschließt, und Benedikt XVI. ist kein Spaßpapst, sondern ein ernsthafter, tiefgründiger Theologe.
Nicht erst seit dem Papstbesuch im vergangenen September ist Kritik an der Katholischen Kirche en vouge. Freilich wird sie von sehr unterschiedlichen Quellen hervorgebracht, und die Spannbreite geht von „Alle katholischen Priester sind Kinderschänder“ über „Die katholische Kirche ist schuld an den Kreuzzügen“ bis hin zu ernsthaften Debatten über die Transsubstationslehre, die Interkommunion und die Bedeutung der wahren Nachfolge Christi.
Rudolf Lill ist eine der ernster zu nehmenden Quellen. Auf den ersten Blick. Bei genauerer Betrachtung allerdings versinkt er mit seinem Buch „Die Macht der Päpste“ im Mittelmaß der „Papstkritikerszene“.
Dabei ist der Ansatz dieses Buches durchaus vielversprechend. Lill will beweisen, daß die Macht der Päpste, die er „absolutistisch“ nennt, nicht auf der langen Kirchentradition fußt, die Vatikan und Kurie für sich in Anspruch nehmen, sondern „nur“ auf das 12./13. Jahrhundert zurückgeht und in ihrer zeitgenössischen Form mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zementiert wurde.
Lill bedient sich des typischen Papstkritiker-Jargons. Und er schreibt mit sehr viel Sachverstand und Detailwissen. Leider ist es ein wenig zu viel Detailwissen, denn es ist unzusammenhängend aufbereitet. Immer wieder vollzieht der Autor Zeitsprünge. Eben noch ist er in der Zeit der Rennaissance angekommen, und einen Absatz weiter beginnt er mit dem 2. Vatikanum. Damit ist das Buch für einen interessierten Laien kaum zugänglich.
Die Geschichte des Papsttums wird so erzählt, als sei der Papst immer der Antiheld, der Schurke der Kirchengeschichte, und immer wieder wird eine Dichotomie, eine Gegnerschaft von Papst und Kirche angedeutet.
Auch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist das Buch schwierig gestalte. Endlose, kaum zu rezopierende Fußnoten machen den Anhang aus. Die Quellenangaben sind unzureichend. Ein Personenregister sucht man ebenso vergeblich wie die Literaturliste.
Dabei ist das Buch sehr lautstark. Es hat viel Inhalt, aber leider nur wenig Gehalt. Und der Titel spiegelt nicht den Inhalt wieder. Es geht nicht um die Macht der Päpste, sondern letztlich nur um eine Geschichte der Päpste seit 1800. Zudem fehlt dem Buch die Sachlichkeit.
Einen Bonus allerdings, und das sind Exkurse, die zwischen die einzelnen Kapitel gesetzt sind und sich mit dem Konklave, Bischof Levebre und der Pius-Bruderschaft befassen. Gleiches gilt für die Kurzbiographien der Päpste von Pius dem VII. bis hin zu Benedikt dem XVI. .
Das Buch „Die Macht der Päpste“ ist nicht empfehlenswert. Anhand der Biographien dieser Männer wird nicht nur der Wandel des Konzepts „Papst“ per se deutlich, sondern auch der gesellschaftliche Wandel, der sich in dieser Zeit in Europa und auch in der katholischen Kirche vollzogen hat.
Nur der durchschnittliche Papst- und Kirchenkritiker wird sich in dieser parteiisch gefärbten, und damit bedauerlicherweise unzulänglichen Pseudo-Geschichtsschreibung verstanden fühlen und bestätigt finden. 


http://www.butzon-bercker.de/



LUTHER, QUO VADIS?


Felix Leibrock: „Lutherleben – ein Reformationsroman

 erschienen 2011, Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG, Petersberg
ISBN:  978-3865686329
Preis: 9,95 Euro


Stellen Sie sich vor, Sie haben einen schweren Unfall. Ihr Gehirn ist in Mitleidenschaft gezogen worden und Sie fallen ins Koma. Als sie erwachen, haben Sie gänzlich Ihre Persönlichkeit vergessen. Die Menschen, die ihnen zuvor noch nahe standen, sind nun Fremde für Sie und Sie sind fest davon überzeugt, jemand völlig anderes zu sein – z.B. Martin Luther.
Dieses Schicksal widerfährt Wolfgang Trödler, dem Hausmeister eines Camping-Platzes in der sachsen-anhaltinischen Provinz. Und mit seiner neugewonnenen Identität schafft Wolle Luther, wie der von dem Unfall Genesene nun allgemein genannt wird, auch gleich Tatsachen. Er schnappt sich sein Akkordeon und schlägt sich als Straßenmusiker durchs Land. Mit der Bahn reißt er von einem Lutherort zum anderen, sorgt auch für Aufsehen in den Medien und gewinnt bald sogar Jünger. All dies tut er mit einem Ziel: Er will die Kirche aufs Neue reformieren. Vor allem sucht er nach dem Böhmischen Kelch, jenen Kelch, mit dem Jan Hus das Abendmahl in beiderlei Gestalt unter seinen Anhängern verteilte. In Augburg, Worms, Eisenach und Erfurt hofft er, die Erinnerung daran wiederzufinden, wo er einst diese heilige Reliquie versteckt haben könnte. Er will den Kelch nicht nur finden, er hofft, daß mit diesem Kelch im Jahre 2017 ein gemeinsames Abendmahl von Katholiken und Evangelischen gefeiert werden könne, um die Spaltung dieser beiden christlichen Kirchen zu überwinden.
Und während Wolle durch die Lande tingelt, macht sich Sabine Harder, die Wolle als Klinikseelsorgerin während dessen Reha-Kur kennengelernt hat, ihrerseits auf eine Suche. Sie will die Vergangenheit von Wolfgang Trödler aufdecken.
Beide werden fündig. Wolle findet den Böhmischen Kelch vergraben im Garten des Augustinerklosters zu Erfurt.
Pastorin Harder findet einen ehemaligen Studienfreund von Wolfgang Trödler und erfährt, daß dieser sich schon als junger Mann mit der Geschichte der Reformation befasst und sogar versucht hat, selbst evangelischer Pfarrer zu werden.
Nun, das ist das Buch. Sein Inhalt ist schnell erzählt, und um es zu lesen, braucht auch ein schlichtes Gemüt nur zwei Nachmittage.
Stilistisch ist dem Buch nicht allzu viel abzugewinnen. Wer gut geschriebene Literatur sucht, wird von „Lutherleben“ gewißlich enttäuscht sein.
Schon die Hauptfigur, Wolle Luther, bleibt ein Unsympath. Ein Egomane, der auf sein Charisma einsetzt, Menschen bewußt belügt und manipuliert, um seine Ziele durchzusetzen, und der seine „Jünger“ wie dumme Kinder und Untergebene behandelt. So ist er persönlich beleidigt, als eine Taube das Lutherdenkmal in Worms besudelt. An einer anderen Stelle redet er einem Architekten ein, er sänge für die Verständigung der Katholiken und Evangelischen in Kalifornien, während er in Wahrheit nur deshalb auf diesem Platz Musik macht, um genug Geld zu verdienen, mit dem er seine Hotelrechnung begleichen kann. Gleichzeitig geht es Wolle immer noch um die Sache der Kirchen. Und irgendwie scheint ihm gar nichts recht zu sein. Auch wenn er selbst immer wieder „Eine feste Burg ist unser Gott“ auf dem Akkordeon zum besten gibt, kreidet er es anderen Pastoren an, wenn sie die „alten Lieder“ die so „schwierig und fremd“ (S. 39) waren, singen ließen und freut sich, wenn in einem anderen Gottesdienst neues geistliches Liedgut zum Einsatz kommt. Und er beklagt, daß die Kirche der Gegenwart zu sehr auf die Vernunft und zu wenig auf das Gemüt des Menschen ausgerichtet sei.
Gott sei ein Backofen voller Liebe, so läßt der Autor seinen Helden Wolle räsonieren, während er in der Lutherkirche zu Apolda sitzt und vor sich hinträumt. Diesem Ort wird ein unangemessen großer Platz in dem schmalen Band eingeräumt, was sicher der Tatsache zu schulden ist, daß der Verfasser Pfarrer in Apolda ist. So ist denn auch bei der großen Schlussszene, als Wolle endlich den Böhmischen Kelch gefunden hat, neben der Klinikseelsorgerin Frau Harder und ihrem katholischen Kollegen auch noch ein namenloser Mann aus Apolda zugegen.
Eine der Botschaften des Buches: Wenn bis 2017 nicht die Interkommunion eingeführt und die Trennung von katholischer und evangelischer Kirche aufgehoben ist, dann wird beides niemals geschehen. Und diese vereinte Kirche muß eine Kirche für das Gemüt sein, eine Kirche der Emotionen, eine zeitgemäße Kirche mit flapsigen Predigten und neuen Liedern. Eine Kirche ganz nach der Vorstellung von Wolle Luther.
Das Buch erhebt den Anspruch, ein Reformationsroman zu sein. Auf leichte und „humorvolle“ Art soll Lesern, auch jungen Lesern, die Geschichte der Reformation nahe gebracht werden.
Das mag man sehen, wie man will. Nach Einschätzung der Rezensentin hat der Wikipedia-Artikel zu diesem Thema weitaus mehr zu bieten als Leibrocks Reformationsroman. Und gerade für die Jugend gibt es qualitativ weitaus bessere Bücher. Beispielsweise das Jugendbuch „Bruder Martinus“ von Hans Bentzien.
Ein weiteres Negativum des Buches ist sein Zeitbezug. Durch viele Hinweise auf Ereignisse der Zeitgeschichte kann der Leser des Jahres 2011 das Buch gut zeitlich verorten. Diese Hinweise betreffen unter anderem den „Skandal“ um Bischof Mixa und den Sieg von Lena Meyer-Landruth im Eurovision Song Contest. Allerdings erreicht das Buch damit den Eindruck, sich beim Leser anbiedern zu wollen. Zum anderen wird es zu einem Wegwerfprodukt. Man spürt beim Lesen: Spätestens im Jahre 2018 wird dieses Buch nicht mehr das Papier wert sein, auf das es gedruckt ist.
Auch in dem etwas bemühten und eher schlichten Humor schreit das Buch geradezu danach, dem Leser nicht zu gefallen, aber gefällig zu sein.
Und die Art und Weise, wie der Autor versucht, den Dialekt einiger Menschen humorvoll zu kolportieren, wirkt leicht überheblich.
Das Buch „Lutherleben“ nimmt für sich in Anspruch, ein Reformationsroman zu sein. Ein Anspruch, dem es nur schwerlich gerecht wird. Sicher ist die Frage interessant, wie der Reformator und Theologe in der heutigen Zeit die Fragen von Kirche, Kirchenspaltung, Interkommunion und Gesellschaft beantworten und betrachten würde. Nur denke ich, daß die Umsetzung durch Herrn Pfarrer Leibrock vieles offen läßt und ein gefärbtes, einseitiges Bild des Doktor Martin Luther zeichnet. Sicher geht ein Autor immer über Eis, wenn er sich der Herausforderung einer Persönlichkeit von historischer Bedeutung stellt, wie man an dem vorliegenden Roman sehen kann.
Die Epoche der Reformation war eine der großen Zeiten, und die Bedeutung Luther für die Geschichte Europas darf nicht unterschätzt werden. Ohne die Reformation wäre auch die katholische Kirche nicht das, was sie ist. Das Tridentinum, das 2. Vatikanische Konzil hätte es nie gegeben. Die Aufklärung, ja, die Säkularisierung von Lehre und Wissenschaft wäre nicht dem Maße, wie unsere Gesellschaft es in den letzten 400 Jahren erlebt hat, zustande gekommen.
Leider erfahren wir in Leibrocks Roman nichts von alledem.
Das Buch wurde nur aus einem Grund geschrieben: Als Werbebroschüre für das Lutherjahr 2017. Es ist ein Buch, das nur seichte Gemüter unterhält, stilistisch einfallslos und geschrieben ohne Mühe. Ein Buch, das man getrost im Regal stehen lassen kann.
Nur am Rande soll erwähnt sein, daß Herr Leibrock in der Bezugnahme auf Wolle Luthers neuropathologischen Status den Begriff „multiple Persönlichkeitsstörung“ verwendet, einen Begriff, den Psychiatrie und klinische Psychologie schon lange auf den Müllhaufen ihrer Geschichte geworfen haben. Der korrekte Terminus lautet „Dissoziative Identitätsstörung“. 



Der Artikel erschien zum ersten Mal auf der Seite www.freigeist-weimar.de

Freitag, 2. Dezember 2011

Lesung: EINE WEIHNACHTSGESCHICHTE von Charles Dickens



Jeder kennt die Geschichte von Ebenezer Scrooge, dem alten Geizhals, der in der Nacht von drei Geistern besucht wird, die ihn mit sich selbst konfrontieren.
Dickens schrieb diese Geschichte im Jahre 1843, im Alter von 31 Jahren. Und er schuf damit mehr, als eine Geschich...te. Unzählige Adaptionen und Varianten gibt es in der Zwischenzeit. Daran erkennt man große Literatur. Daran erkennt man die großen, die wirklichen Geschichten.
Doch die Geschichte über Ebenezer Scrooge hat es gar nicht nötig, neu erzählt zu werden. Das Original ist immer noch besser als all die mittelmäßigen Kopien.

"Eine Weihnachtsgeschichte" ist nicht nur eine Geschichte, die einfach in die Weihachtszeit paßt. Es ist eine Geschichte, die in unsere Zeit, in der das System des grenzenlosen Kapitalismus zusammenzubrechen droht, paßt.
Und es ist zugleich eine Einstimmung auf das Jahr 2012, in dem wir den 100. Geburtstag des großen europäischen Schriftstellers Charles Dickens zelebrieren.

Es liest Ilka Lohmann

Freitag, 21. Oktober 2011

ABENTEUER IN DER TUDORZEIT - Rezension "Der Dunkle Thron" von Rebecca Gablè


Rezension: Rebecca Gablés neuer Roman „Der Dunkle Thron“

Rebecca Gablé „Der Dunkle Thron“, Bastei Lübbe (Oktober 2011) (960 Seiten)

ISBN 978-3431038408, Preis: 24,99 Euro


Rebecca Gablés neuer Roman nimmt den Leser mit auf eine Abenteuerreise durch die Zeit von Heinrich dem VIII.

Gleich zu Anfang begegnet man dem jungen Nicholas, dem ältesten Sohn des Earl of Waringham. Nicholas und seine Schwester Laura leiden in der elterlichen Burg unter einer übelwollenden Stiefmutter und deren Tochter aus ihrer erster Ehe. Doch das ist noch nicht alles. Der Earl vernachlässigt das Gut und die berühmte Pferdezucht, um in seiner Bibliothek ketzerische Schriften zu sammeln, zu lesen und selbst zu verfassen. Deshalb kehrt Nicholas zurück aus der Schule von Thomas More, um seinen Vater wieder zurück auf den rechtgläubigen Weg zu bringen, und der Earl beugt sich.

Doch umsonst. Verleumdung bringt den Earl in den Tower, und Nicholas, der ihm hinterher reist, muß mit eigenen Augen sehen, wie sein Vater an den Folgen der Folter stirbt.

Das weckt in dem jungen Mann einen tiefen Haß auf den König und seine Handlanger, der ihn in den Jahren seines Lebens immer wieder in Schwierigkeiten bringen wird.

Nicholas versucht zunächst, sich aus der Politik herauszuhalten. Während es im häuslichen Bereich zu einem unüberwindlichen Bruch zwischen ihm und seiner Stiefmutter, die er liebevoll Sumpfhexe nennt, konnt, versucht er, die Pferdezucht neu zu beleben. Und während er sich anlässlich eines Pferdemarktes in London aufhält, erreicht ihn ein Ruf der Königin Catalina. Sie ist noch die Ehefrau von König Henry. Aber der hat in Anne Boleyn eine neue Liebe gefunden und eine potentielle Gebärerin von Söhnen. Deshalb versucht er, die Ehe zwischen sich und Catalina annullieren zu lassen. Deshalb befürchtet die Königin schlimme Folgen für ihre Tochter Mary, und sie bittet Nicholas, dieser ein Freund, ein Vertrauter und ein Beschützer zu sein. Nicholas kann nicht anders, als einzuwilligen.

Nicholas, nun engster Vertrauter von Mary Tudor, erlebt all die großen Ereignisse mit, die England in der Zeit von Heinrich dem VIII. erschütterten: die sechs Ehen des Königs, zahlreiche Hinrichtungen von mehr oder weniger namhaften Zeitgenossen, die Gründung und Verbreitung der anglikanischen Kirchenreform.

Nicholas und seine Freunde und Verwandten geraten dabei immer wieder fast unter die Räder, und viele schwere Unglücksfälle und Notzeiten sind zu überstehen, bis endlich Königin Mary I. den Thorn von England besteigen kann.

Der Roman ist eine sehr spannende, unterhaltsame und bunte Lektüre. Gablé schreibt mit sicherer Hand und mit Leichtigkeit, die an Dumas denken läßt. Und sie schreibt mit großer Sachkenntnis, ohne sich mit dieser aufzudrängen.

Es gelingt der Autorin sehr gut, die einzelnen Charaktere von einander abzugrenzen und als Individuen darzustellen, als lebendige Menschen mit guten und schlechten Charakterzügen, und selbst die unliebsamen unter ihnen dürfen einmal in einem wohlwollenden Licht erscheinen.

Das Gute dieses Buches überwiegt. Die Sprache ist weich und ausgeglichen und der Tudorzeit überaus angemessen. Es überrascht, daß – entgegen sonstiger historischer Rezeption dieser Zeit der englischen und europäischen Geschichte – die Sympathien der Autorin nicht auf den Seiten der Reformatoren, die sie Reformer nennt, liegen, sondern auf der Seite derjenigen, die am Papsttum und am Katholizismus festhalten. So bleibt auch die Hauptperson Nicholas, trotz der reformatorischen Umtriebe selbst in seinem engsten Familien- und Freundeskreis, katholisch, auch wenn er immer wieder in der englischsprachigen Bibel von William Tyndale liest, sogar während seiner Festungshaft im Tower.

Doch der Roman hat auch seine Schwachstellen.

Als erste wäre die Leerstellentechnik zu nennen, die von der Autorin immer wieder eingesetzt wird. In einer Szene beschwört sie ein Ereignis herauf, in der darauffolgenden Szene ist das Ereignis schon vergangen, und seine Folgen werden ausgewertet. Mitunter sind solche Leerstellen mehrere Jahre lang.

Dann tauchen immer wieder Figuren wie aus dem Nichts in Dialogen auf. Meist wird ihr Erscheinen dann in einem fadenscheinigen Nebensatz spärlich erklärt, doch es vermittelt den Eindruck, als wäre der Autorin in dem Augenblick, als sie das schrieb, gar nicht bewußt gewesen, daß die Person eigentlich gar nicht da war.

Zudem hat die Autorin einen gewissen Hang zu Relativsätzen, die sie mit dem umschönen „welche“ einleitet, nur um die Dopplung von gleichlautendem Relativpronomen und Artikel zu vermeiden.

Die größte Schwäche des Romans ist allerdings die Handlung, was daran liegt, daß er eigentlich keine hat. Letztlich ist es nur eine Abfolge von Geschehnissen, die bis zum ende des zweiten Teils noch immer eine gewisse Spannung hat und zumindest einen Handlungsablauf andeutet, doch dann scheint die Autorin irgendwie die Konzentration verloren zu haben. Die Ereignisse wirken plötzlich auf eine seltsame Art weit hergeholt.

Und die Unfähigkeit der Autorin, ihre Figuren Konflikte wirklich durchleben zu lassen, hat schon fast etwas sehr ärgerniserregendes. So geschieht es sehr oft, daß eine Person ganz tief in ein Schlamassel hineingerät, aber durch einen Umstand, den bis dahin nur keiner gewußt hat, entgeht die Person der Katastrophe. Der Deus ex Machina macht da wieder einmal Überstunden.

An dieser Stelle noch ein kurzes Wort zu der Hauptperson des Romans: Nicholas of Waringham. Er ist ein schwieriger Charakter, in sich zerrissen. Auf der einen Seite bringt er der Prinzessin Mary eine Loyalität entgegen, die ihn bis an den Rand der Selbstzerstörung bringt, auf der anderen Seite ist er nicht dazu in der Lage, diese gleiche Verbundenheit seiner Ehefrau und der Mutter seiner Kinder entgegen zu bringen. Wenn ihm Angehörige des „neuen“ Adels unterstellen, er wäre ihnen gegenüber arrogant, aufgrund seiner alten Familie, so leugnet er es, doch fällt es ihm nicht schwer, diese Arroganz gegenüber seiner Ehefrau, die aus einfachen Verhältnissen stammt und die gezwungenermaßen ehelichen mußte, nach Belieben auszuleben. Eine Zeitlang bringt er den Pferden mehr Verständnis entgegen als seinem eigenen Sohn. Das macht es schwer, ihm nahe zu kommen und ihn zu mögen. Dennoch ist er ein Charakter, der fasziniert. Wenngleich keiner von den Großen.

Es fällt zwar schwer, ihn zu mögen, doch gerade wegen dieser Zerrissenheit und der Schattenseiten seiner Persönlichkeit fällt es leicht, sich in ihn hineinzuversetzen.

Trotzdem kann man mit dem Buch sehr angenehme Lesestunden verbringen. Denn einiges unterscheidet ihn wohlwollenden von den meisten (pseudo-)historischen Romanen, mit denen der Buchmarkt zur Zeit ertränkt wird.

Erstens beruht das Buch auf historisch recherchierten und korrekten Fakten. Bis ins kleinste hinein.

Dann ist es keiner dieser tumben „Frauenromane“, in denen meist irgend eine Frau versucht, etwas Ungewöhnliches zu tun, um aus ihrer Gesellschaftlichen Rolle auszubrechen.

Drittens ist die Sprache des Buches, bis auf oben genannte Schwäche, gut gewählt und angemessen. Was leider selbst im historischen Bereich keine Selbstverständlichkeit ist.

Viertens ist das Buch spannend und unterhaltsam und berührend erzählt.

Das Buch ist also lesenswert. Und es ist gerade zur rechten Zeit auf den Markt gekommen, um als unterhaltsame Lektüre für die länger werdenden Herbstabende zu dienen. Und es ist auch die Ausstattung mit seidenem Lesebändchen, die beim Lesen viel Freude bereitet.


http://www.luebbe.de/

http://www.amazon.de/dunkle-Thron-Historischer-Roman/dp/3431038409/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1313762716&sr=8-1

http://www.bloggdeinbuch.de/



Samstag, 8. Oktober 2011

SICH DURCHKÄMPFEN: Rezension von "BOX! Du hast nur diese eine Chance" von UweSchuster und Philipp Kohlhöfer

Uwe Schuster/Philipp Kohlhöfer „BOX! Du hast nur diese eine Chance“, Wilhelm Heyne Verlag München, 2011

ISBN: 978-3-453-60187-1

Preis: 13,00 Euro


Oft kommt es im Leben anders, als man denkt, und manchmal kann keiner voraussehen, wohin einen der Weg führen wird.

Eine Binsenweisheit scheinbar, aber eine, die sich immer wieder bewahrheitet. So auch in der Biographie von Uwe Schuster, der in dem Buch „BOX! Du hast nur diese eine Chance“ (erschienen im Heyne Verlag) aus seinem Leben erzählt.

Der Anfang war eine vielversprechende Boxer-Karriere in der DDR, doch dieser Traum zerplatzte, weil Schuster die extremen Trainingsbedingungen, die seinen körperlichen und physiologischen Konditionen nicht zuträglich waren, nicht ertragen konnte. Er schaffte hier den Ausstieg, ehe sein Körper größeren Schaden genommen hatte.

Dann die Rückkehr in die Vaterstadt Halberstadt, die Lehre als Maschinenbauer und ausgiebiges Kommunardenleben, schließlich die Verpflichtung bei der NVA, die mit einer unehrenhaften Entlassung endete – der Liebe wegen.

Schuster berichtet nun von einem nicht ganz gewöhnlichen Leben in der Mangelwirtschaft des real existierenden Sozialismus. Immer wieder Schwierigkeiten mit der Wohnung, Schimmelbefall und Atemwegserkrankungen. Eheschließung, Ehescheidung. Doch nebenher auch viel Kreativität.

Schließlich, Ende der 1990er Jahre, sind zwar die Wirren der Wende gerade so überstanden, aber die familiären Probleme beginnen gerade erst. Um einen Ausweg zu finden, schließt Schuster an seine eigene Jugend an – das Boxen. Zuerst trainiert er nur den eigenen Sohn, später eröffnet er in Halle ein Profi-Boxcamp.

Die Lektüre dieser Lebensgeschichte ist sehr spannend. Das Buch erzählt einfach und schnörkellos. Im Plauderton kommt es daher und nimmt den Leser mit, der unter anderem Einblicke bekommt in die Sportlerausbildung in der DDR und hinter die Kulissen des Profiboxens schauen darf. Ein Blick allerdings, der viele Illusionen zerstören kann.

Denn Schuster, dem der Journalist Philipp Kohlhöfer bei diesem literarischen Unterfangen zur Seite stand, berichtet offen und ungeschönt und nimmt kein Blatt vor den Mund. Auch nicht, wenn es um eigene persönliche Angelegenheiten geht.

Ehrlich erzählt er, wie seine erste Ehe scheiterte und wie sein Sohn auf die sprichwörtliche schiefe Bahn von Drogenkonsum und Jugendkriminalität geriet.

Unter anderem erzählt Schuster, wie er und seine erste Frau in DDR-Jahren ihr spärliches Einkommen aufbesserten, in dem sie in Eigenproduktion Kunsthandwerk herstellten und damit auf Märkten vertreten waren.

Dieser Erfindungsreichtum ließ Schuster nicht im Stich. Immer wieder gelang es ihm in seinem Leben, sich auf neue Situationen einzustellen und das Beste daraus zu machen.

Und er selbst sagt an einer Stelle, daß es nicht schlimm sei hinzufallen, selbst wenn es wieder und wieder geschehe... Wichtig sei nur, immer wieder aufzustehen.

Das sind keine Lehren Worte, sondern Lebenserfahrungen.

Schusters und Kohlhöfers Buch ist nicht zuletzt auch ein Stück Zeitgeschichte. Wenngleich der große Sprung nach dem Ende der Wendezeit ein wenig irritiert, weil die Geschichte scheinbar nahtlos im Jahr 1999 ankommt.

„BOX! Du hast nur diese eine Chance“ ist keine große Literatur, erhebt aber auch nicht den Anspruch, dergleichen zu sein.

Es ist die nicht ganz so einfache Lebensgeschichte eines nur auf den ersten Blick einfachen Mannes.

Eine lohnenswerte Lektüre.

Donnerstag, 22. September 2011

DIE SCHULD DER VÄTER - Carlos Ruiz Zafons Roman "Der FÜRST DES NEBELS"

Rezension: Carlos Ruiz Zafon (2010) DER FÜRST DES NEBELS [deutsch von Lisa Grüneisen], S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main


„Das ist nicht tot, was ewig liegt....“ dichtete Howard Philipps Lovecraft für das geheimnisvolle Necronomicon, und auch in Carlos Ruiz Zafons Roman „Der Fürst des Nebels“ muß der dreizehnjährige Max dies bitter am eigenen Leibe erfahren.

Vom Vater wird er, wie der Rest der Familie, eines Tages mit dem plötzlichen Umzug von der Stadt in ein Haus am Meer überrascht, um dem Krieg zu entfliehen, wie der Vater sagt, der aber eigentlich nur einen neuen Anfang in einer neuen Umgebung sucht.

Doch auch in dem kleinen Fischerdorf, in das es die Familie nun verschlagen hat, ist der Krieg nicht fern. Max trifft ihn, im übertragenen Sinne, in Gestalt Ronalds, des neunzehnjährigen Adoptivsohnes des Leuchtturmwärters, der davon erzählt, daß dies sein letzter Sommer in dem kleinen Dorf sein könnte, weil er im Herbst an die Front einberufen werden wird.

Doch um Ronald ranken sich mehr Geheimnisse, als es auf den ersten Blick scheint. Und es wird bald deutlich, daß alle in großer Gefahr schweben. Der Leuchtturmwächter hütet des Geheimnis, doch als er es endlich Max offenbart, ist es schon zu spät und die Tragödie ist nicht mehr aufzuhalten.



„Der Fürst des Nebels“ von Carlos Ruiz Zafon wird zu Recht und zu Unrecht als Jugendbuch bezeichnet.

Zu Unrecht, weil dem Buch weder der unsägliche pädagogische Impetus, der viele Jugendbücher zu Brechreizlektüre macht, noch der gewisse Hauch von Drögheit und Schlichtheit, wie er beispielsweise von den Büchern Pauswangs oder Funkes ausgeht, anhaftet. Das Buch ist gut geschrieben, spannend erzählt. Die Sprache ist fein formuliert, und nicht im geringsten nimmt sie Anklang an der sogenannten Jugendsprache, mit der schon der Übersetzer Wolfgang Krege – Friede seiner Asche – den „Herrn der Ringe“ zu einem Bastei-Lübbe-Schlager abqualifizierte und der die deutschen Übersetzungen der „Harry-Potter“-Bücher zu einer Herausforderung für jeden macht, welcher der deutschen Sprache mächtig ist. Es ist eine ernste Sprache, dem Sujet des Schauerromans angemessen. Poetisch. Klangvoll. Banale Nebensätze und schludrige Formulierungen sucht man vergebens. Da hat die Übersetzerin Lisa Grüneisen, die durch ihr gutes Stilistikgefühl schon „Der Schatten des Windes“ zu einem Klassiker hat werden lassen, ganze Arbeit geleistet.

Damit wären wir auch schon an der Stelle, an der erklärt werden soll, warum der Roman kein Jugendbuch ist. „Jugendbuch“ klingt nach geringem literarischen Wert. Leider ist das so. Man mag beispielsweise von Stephenie Meyer halten, was man will, aber der literarische Wert ihrer Bücher ist liegt bei Null. Die Ausgaben unterscheiden sich nur durch den Festeinband von den üblichen Groschenromanen vom Kiosk nebenan.



Sollte ich den „Fürst des Nebels“ mit einem anderen Roman vergleichen, so käme mir als erstes Aitmatows „Der weiße Dampfer“ in den Sinn. Im Mittelpunkt beider Romane steht ein Junge, der sich dem Erwachsenwerden stellt. Während das namenlose Kind in den Kirgisischen Wäldern daran zugrunde geht, daß die Märchen seiner Kindheit, die seine Seele sind, an der Wirklichkeit zerbrechen, überlebt Max die Tragödie. Doch nach der Lektüre des Buches fragt man sich zwangsläufig: Was für ein Leben hat man vor sich, wenn man solche Ereignisse, solche Schrecken, solche unaussprechlichen Unmöglichkeiten erfährt und überlebt?

Und es ist gut, daß Zafon uns die Antwort schuldig bleibt.



Der Roman ist Zafons Erstling. Durch die historische Verortung in den Sommer 1943 und durch die Unschärfe, mit der die räumliche Dimension beschrieben wird, hat das Buch etwas Zeitloses. Es wird auch in hundert Jahren nichts von seiner Frische verloren haben.

Es ist ein Buch, wie es Großeltern ihren Enkeln zum Lesen geben können, als wäre es ein Buch ihrer Jugend.

Die Bilder erinnern an altersschwache, verblichene Fotographien, die von einem zarten Sepia überzogen sind. Man meint, den Wind zu spielen. Und wie von Fern hört man eine Melodie, die einem alten Wiegenlied gleicht.

Immer wieder taucht aus dieser Idylle der kühle Hauch des Schreckens auf. Ein Schrecken, den man gern in das Reich der Phantasie, der kindlichen Einbildung verbannen möchte. Aber er ist wirklich, er wird greifbar, und er verschont keinen.



Zafon hat nur scheinbar einen Roman über das Erwachsenwerden geschrieben. Es ist Roman über die Schuld. Alle machen sich schuldig: der Vater, der – um sich den Traum vom Leben am Meer – seine Familie mit einer Lüge aus ihrer gewohnten Umgebung reißt; der Leuchtturmwächter, weil er viel zu lange schweigt; Dr. Fleischmann, der Vorbesitzer des Hauses, weil er sich eingelassen hat auf einen Pakt mit dem Dämon, um das zu bekommen, was nicht für ihn bestimmt war, und der damit Unglück über andere Menschen brachte.

Cain, der Nebelfürst, tut nichts anders als das, was man von ihm erwartet. Er ist das schlechthin Böse, das selbst jene verführen kann, die sich von ihm abwenden.

Und die Kinder.... Sie leiden. Sie tragen die Last für die Schuld der Alten.



Das einzig Negative, was man über dieses Buch sagen kann ist dies: Es ist entschieden zu kurz.



Wer sollte also dieses Buch lesen?

Kurze Antwort: Jeder.

Lange Antwort: Jeder, der innerliche Geschichten liebt, der bereit ist, die Macht des Übernatürlichen anzuerkennen, der sich verführen läßt, der berührbar ist und bereit dazu, sich wie ein Kind zu fürchten vor dem Dunkel hinter der verschlossenen Kleiderschranktür.



Carlos Ruiz Zafon, geboren am 25. September 1964, ist geboren und aufgewachsen in Barcelona. „Der Fürst des Nebels“ ist sein erster Roman, der 1993 in spanischer Sprache erschien.

Dienstag, 30. August 2011

KÄSSMANN-TEXTE, DIE SICH ERGIESSEN IN WELLNESS-BELIEBIGKEIT

REZENSION
Margot Käßmann: Sehnsucht nach Leben – mit Bildern von Eberhardt Münch. 176 S. geb. m.Schutzumschl. Adeo Verlag. Asslar 2011. 17,99 €. ISBN 978-3-942208-26-0


Es hat eine lange Tradition, daß Priester und Pastoren Bücher schreiben. Bücher, die der Erbauung dienen sollen und der Vermittlung von religiösem Wissen. Eine Pastorin, die in dieser Hinsicht besonders eifrig ist, ist Margot Käßmann, Jahrgang 1958. Die promovierte und habilitierte Theologin, ehemalige Bischöfin von der evangelischen Landeskirche von Hannover und ehemalige Ratsvorsitzende der EKD kann, nach den Angaben der DNB, auf sage und schreibe 141 Publikationen zurückblicken.

In ihrer jüngsten Publikation schreibt Käßmann nun über die Sehnsucht. „Sich sehnen", so schreibt sie in der Einleitung, „ist etwas sehr Emotionales. Da geht es um ganz Eigenes, da schwingen Lebensfragen, Hoffnungen mit." (S. 7)

In zwölf Abschnitten, die man mit ganz viel gutem Willen als essayistische Versuche bezeichnen könnte, widmet sich Käßmann nun ganz allzumenschlichen Themen wie Heimat, Liebe, Gott, einem Engel und anderen Gemeinplätzen, die sie allesamt auf spielerisch-oberflächliche Weise zum Thema „Sehnsucht" in Beziehung setzt. So schwammig, wie die Begriffe sind, die Frau Käßmann hier zusammengetragen hat, so schwammig bleiben die einzelnen Texte. Auf 176 Seiten versammelt dieses Buch alle pseudospirituellen Wohlfühlklischees, die man sich nur denken kann. Und Frau Käßmann, die auch hin und wieder persönliche Banalitäten preisgibt, wird nicht müde, alles ermutigend und faszinierend und bedeutsam zu finden.

Auf Seite 33 fällt ein bedeutungsschwangerer Satz: „Mich bedrückt, wenn Menschen ein Leben lang schweigen sollen und es heißt, dies sei eine gottesfürchtige Haltung." Zum Kontext: Der Abschnitt ist mit „Sehnsucht nach Stille" betitelt, und jener Satz ist ein Kommentar zu gewissen katholischen Mönchsorden, deren Angehörige ein Schweigegelübde abgelegt haben. Nun ist es in der Tat so, daß diese Mönche größtenteils schweigen, allerdings verrichten sie dennoch sprechend und singend ihre Stundengebete. Nur, und darin unterscheiden sich diese Ordensmänner von Frau Käßmann, vermeiden sie es, belanglose und überflüssige Dinge zu äußern.

Nein, Frau Käßmann hat nicht vor, sich in die Große Kartause zurückzuziehen. Lieber läßt sie wissen, was sie ermutigt und wie sehr sie ihre muslimischen Nachbarn faszinieren. Und allzu gern berichtet sie von den Erfahrungen, die sie in den USA oder bei anderen Auslandsaufenthalten gesammelt hat. Und auf gar keinen Fall darf sie ihr praktisches Gutmenschentum unerwähnt lassen.

Sie trägt gern, schreibt sie, den Titel Weltverbesserer, den die ungerechte Umwelt ihrem naiven Friedensglauben angedeihen läßt. Und das kann uns alle sehr ermutigen. Da ist eine Frau, die ist für den Frieden und die Moslems und natürlich für Marius Müller-Westernhagen. Und die ist stolz auf jede Kritik, wenn sie meint, nichts wäre gut in Afghanistan. Und die uns alle Anteil haben läßt an der Behütung, die sie durch ihren Glauben erfährt.

Käßmanns Buch „Sehnsucht nach Leben" hat nichts zu bieten, was auch nicht schon in anderen Schriften ähnlicher Couleur geäußert wurden wäre. „Sorge dich nicht, lebe" von Dale Carnegie oder „Die Macht des positiven Denkens" von Joseph Murphy - um nur zwei Beispiele zu nennen. Neu könnte der evangelisch-theologische Kontext sein, wenn er denn in diesem Buch vorhanden wäre. Aber jeder Sozialpädagoge jedweder Konfession könnte diese Textsammlung verfaßt haben.

Besonders überflüssig sind die Texte, die Frau Käßmann zur Grundlage ihrer Argumentationen gemacht hat. Sie beruft sich auf Autoren wie Hilde Domin, Herta Müller oder Ernst Bloch. Diese Texte sind deshalb überflüssig, weil sie, so bedeutsam sie auch sein mögen, keine theologische Relevanz haben. Aber sie fügen sich gut ein in den Eindruck der Gefälligkeit, den dieses Buch zu vermitteln sucht. Gelegentlich führt Frau Käßmann auch den großen Reformator Martin Luther auf der Zunge, bzw. auf der Feder, doch leider hat sie vergessen, den Luther-Zitaten eine Quelle zuzuweisen.

Nun, was ist abschließend über das Buch zu sagen? Es enthält ein gutes Dutzend seichter Texte zu seichten Themen. Man muß kein habilitierter Theologe sein, um dergleichen zu schreiben. Jeder, der gern in Blasen redet, könnte ähnliches verfassen. Ein alternativer Titel für diese Publikation wäre „Sehnsucht nach Inhalt" - denn genau das ist es, was das Buch am meisten vermissen läßt.

Aber was macht diese Texte so leer? Nun, weil sie sich ergießen in Wellness-Beliebigkeit, genau vorbei an dem, was die Menschen wirklich bewegt in ihrem Inneren. Ein Buch, genau an der Seele des Menschen vorbei geschrieben. Irgendwie sei alles doch gar nicht mehr so schlimm, wenn man nur für den Frieden und die Moslems ist und sich in Toleranz gegenüber allen möglichen gesellschaftlichen Randgruppen übt. Christentum, das nicht mehr als bloße Religion ist. Religion, von der nichts weiter als blasse, gesichtslose Spiritualität übrigbleibt. Spiritualität, die sich zusammenfassen läßt mit dem Satz: Das Leben könnte ja so schön sein, wenn die Menschen nur ein weniger.... wie Margot Käßmann wären. Nur sehr seichte Gemüter und sehr gefühlsarme Menschen werden Trost finden in dieser Schrift.

Lobend seien allerdings die feinen, farbenfrohen Bilder des Malers Eberhard Münch erwähnt, die sehr schön und farbenfroh sind und zur Betrachtung einladen.


Erstveröffentlichung dieses Textes am 30. August 2011 auf www.freigeist-weimar.de
http://www.freigeist-weimar.de/beitragsanzeige/kaessmann-texte-die-sich-ergiessen-in-wellness-beliebigkeit/

Mittwoch, 22. Juni 2011

DU BIST EIN SOMMERBILD

Deine Augen sind Seen,
umkränz
von dunklem Schilf.

Deine Lippen
sind der Hügel,
wo wilde Rosen wachsen.

Dein Haar
ein reifes Feld,
darin der Mohn
blüht und Früchte trägt.

Du bist ein Sommerbild.

Wär ich der Wind,
der über das Wasser streicht,
die Blätter vom roten Mohn
abreißt, davonträgt
und über dem Hügel,
den Hügel, den wilden Rosen
innehält
und sich niederläßt....

Freitag, 22. April 2011

MEIN FREUND IMMANUEL

Wir saßen wieder zusammen bei Kaffee und Kuchen. Immanuel hatte eine Königsberger Marzipantorte gebacken. Er wußte, daß ich diese am liebsten mochte. Er war ein begnadeter Konditor, und er freute sich, wenn man seine Torten lobte.
Ich sagte scherzhaft: „Diese Torte ist die Torte an sich!“
Aber Immanuel runzelte nur die Stirn. Ich war sicher die 132. Person, die diesen Scherz machte. Mein Humor war nicht besonders originell. Das hatten wir miteinander gemein.
Ich wartete darauf, daß er wieder seinen Lieblingswitz erzählen würde, den von Karl dem Zweiten und Graf Rochester.
[Karl der Zweite trifft Graf Rochester, der an einem Tisch sitzt und schreibt. Er fragt ihn, was er da schreibe, und der Graf antwortet: „Ich verfasse soeben die Grabinschrift Eurer Majestät.“ Der König, neugierig wie er nun mal ist, will sofort wissen, was denn der Graf da so über ihn schreibt, und Rochester liest laut vor: „Hier liegt König Karl der Zweite, welcher in seinem Leben viel Kluges gesagt und nie etwas Kluges getan hat.“]
Aber heute unterließ Immanuel das. Er wirkte nachdenklich, sogar ein wenig betrübt. Er goß den Kaffee ein, und ich lobte dessen Geschmack.
Dann saßen wir einander am Tisch gegenüber und schwiegen. Die Torte war köstlich, aber Immanuel rührte sein Stück nicht an. Ich begann mir Sorgen zu machen und fragte ihn, was ihn denn bedrückte.
Er seufzte nur, hob seine schmalen Schultern und sah mich an.
Ich wußte nun, was ihn beschäftigte. Es waren wieder die alten Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich glauben? Was ist der Mensch?
Ich sagte: „Immanuel, du mußt dich entspannen. Du brauchst Abwechslung. Du mußt mal raus aus Königsberg.“
„Ja, vielleicht“, erwiderte er zaghaft. „Aber wo soll ich denn dann hin?“
Ich ächzte müde, und wußte, daß „Wo soll ich hin?“ die fünfte seiner Fragen sein würde. Ich befürchtete, er könne ein Lehrbuch der Geographie verfassen, um diese Frage zu beantworten, deshalb sagte ich rasch: „Eine Fahrt ans Meer. Was hältst du von Danzig?“
Er sah mich fragend an.
Ich versuchte es erneut. „Karlsbad.“ Karlsbad war eine schöne Stadt. Ich hatte dort schon einige sehr erholsame Kuren verbracht. Dort ging man hin, wenn man müde war und etwas auf sich hielt. Für Immanuel war es der falsche Ort, aber ich nannte ihn dennoch und hoffte, ihn so an Karl den Zweiten und Graf Rochester zu erinnern.
Doch Immanuel griff das zugeworfene Seil nicht auf und schüttelte nur den Kopf.
„Nietzsche liebte die Berge“, sagte ich.
„Wer ist Nietzsche?“, fragte Immanuel.
„Ein Freund. Du kennst ihn nicht“, antwortete ich. Mir war noch rechtzeitig eingefallen, daß Nietzsche erst in 60 Jahren geboren werden sollte.
Immanuel stand von seinem Tisch auf und ging hinüber zu seinem Sekretär. Er zog ein Manuskript unter einem Stapel von Papieren hervor und reichte es mir. „Das habe ich geschrieben“; sprach er.
Ich laß den Titel: „Was ist Aufklärung?“
„Wie findest du es?“, fragte er und blickte mich mit erwartungsvoll strahlenden Augen an.
Ich sagte: „Das ist gut. Brillant. Wie alle deine Schriften. Wo nimmst du nur diese Ideen her?“
„Eine Idee ist ein Vernunftbegriff“, sagte Immanuel und lächelte geheimnisvoll.
„Und was ist nun Aufklärung?“, wollte ich wissen.
„Na was schon?“, meinte Immanuel, und setzte, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, hinzu: „Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“
Ja, was denn sonst? Ich war zufrieden, und sicher waren das auch Graf Rochester und Karl der Zweite, obwohl ich niemals erfahren habe, wie der König diese doch nicht gerade schmeichelhafte Grabinschrift aufgenommen hat.
Als ich ging, versprach ich Immanuel, mich unbedingt meines eigenen Verstandes zu bedienen, und er schenkte mir zum Abschied noch ein Glas Senf. "Den gebe ich immer dazu", sagte er und lachte. Sein Humor war nicht originell.
Ein schöner Nachmittag war es gewesen, einer dieser Nachmittage, an die man sich noch lange erinnert, nicht, weil etwas bedeutendes geschehen ist, sondern einfach nur deshalb, weil die Zeit wie ein langsamer, sanfter Strom an uns vorüber geglitten ist.

Samstag, 12. März 2011

DER MALVEN WILL ICH GEDENKEN


Der Malven will ich gedenken,
die du bei dir trugst
wie ein Kind
und zu mir herüberwarfst,
als die Nacht ihre Wölfe durchs Land trieb.

Du hast keinen Namen ---
so,
wie die Sterne,
die ewigen Sterne.
So bist du,
so fällst du
und steigst
mit den Vögeln der Sehnsucht
über die sterbenden Wälder.

Asche hab ich,
sie dir
entgegen zu tragen.
Warum nur,
Geliebter,
wendest du deine Blicke?

Montag, 7. März 2011

RAVELS LETZTE JAHRE

Der Komponist Maurice Ravel
(1975 - 1937)


Das Gefängnis,
das ihn hielt,
trug seinen Namen.
Daraus drang kein Laut
ins Freue,
kein Wort
und keine Melodie;
doch drinnen
wollte er überfließen und
litt,
weil die Dämme
nicht brachen.
Jeden Tag
erwartete er den Tod,
doch der kam nicht.
Er wollte nur wieder
frei sein
und fortschwimmen.
Und einer kam,
der öffnete ein Fenster
in seiner Stirn.
Da konnte sein Geist
endlich
davonfliegen.


Anmerkung:
Als Folge einer Gehirnerkrankung fiel Maurice Ravel (1875 - 1937) im Alter in einen geistigen Zustand, den man mit Aphasie und Apraxie bezeichnet. Er war bei vollem Bewußtsein, war aber nicht mehr dazu in der Lage, mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten, konnte weder sprechen noch schreiben noch komponieren.
Im Dezember 1937 kam der Komponist in die Klinik des Neurochirurgen Clovis Vincent, der bei ihm eine Gehirnoperation durchführte. Ravel fiel ins Koma und erwachte nicht mehr aus der Narkose.
Er starb wenige Tage später.

Hinweis:
Das ist ein ältere Text. Er wurde laut meiner Aufzeichnungen verfaßt am 19. August 2002

Samstag, 5. März 2011

HINAUS AUS DER NACHT



Sandige Wege.
In der Mitte eine Spur aus Gras.

und immer
steht die Sonne im Süden.
Die Sommersonne,
die Hoffnungssonne,
und Träume vom endlosen,
schwindenden Glück.

Schwalben unterm Himmel.
Bachstelzen am Fluß.

Und immer ein Wind,
der leis
in den Kirschbäumen weht.

Eine Hand,
schwer von der Zeit,
die nach meiner greift
und mich führt ---

hinaus aus der Nacht.

Donnerstag, 24. Februar 2011

SEI NACHT FÜR MICH

Sei Nacht für mich,

sei mir das Große,

sei mir das große Namenlose,

sei es, und zerreiß mein Ich.

Sei Nacht für mich!


Sei Nacht für mich!

In allen Herzen

zünde an die schwarzen Kerzen,

und dann - tief im Schweigen - sprich!

Sei Nacht für mich!


Sei Nacht für mich

bis an das Ende.

Hinter jeder Sonnenwende

schläft ein Frühling fürchterlich.

Sei Nacht für mich!


Sei Nacht für mich,

sei mir für immer,

sei mein letzter Lebensschimmer!

Sei mir, was du bist für dich.

Sei Nacht für mich!


Sei Nacht für mich!

Sei mir das Schweigen,

hinter dem sich Sterne zeigen;

und der Mond verdunkelt sich.

Sei Nacht für mich!


Sei Nacht für mich,

sei mir das Schöne

im Gewimmel aller Töne.

Singe mir, ich bitte dich!

Sei Nacht für mich!


Sei Nacht für mich,

sei mir das große

unsagbare Namenlose.

Sei mir, was du bist für dich.

Sei Nacht für mich.


Dienstag, 22. Februar 2011

HANNO MUSS ZUM ZAHNARZT

Hanno verlor fast den Verstand. Das beständige Pochen und Wummern in seinem Unterkiefer brachte ihn zur Weißglut. Am liebsten wollte er seinen Kopf wieder und immer wieder gegen eine Wand schlagen.
Aber vielleicht, sagte er sich, würden es auch erst mal ein paar Ibuprofen tun, um die Zahnschmerzen zu lindern.
Gedacht, getan.
Hanno warf gleich drei Schmerztabletten ein. Zur Sicherheit. Und mit einem Becher starken Kaffees spülte er sie hinunter.
Nach einer Stunde war Ruhe. Hanno fühlte sich leicht benommen und legte sich hin.
Er schlief fast drei Stunden lang, dann weckten ihn die aufs Neue die Zahnschmerzen. Sie schienen ihm noch heftiger zu sein als zuvor, und leise jammerte Hanno vor sich hin, als er, die Hand gegen die Wange haltend, in die Küche schlich, wo Gertrud, seine Frau, gerade Kartoffeln schälte.
„Na, läßt sich der Herr auch mal wieder blicken?“, fragte sie zynisch, ohne ihn anzusehen.
„Uhuhuh, ich habe Zahnschmerzen“, wehklagte Hanno und trat vor seine Frau hin. Er wollte, daß sie ihn wahrnahm, daß sie seine Schmerzen und sein Elend sah, und daß sie sich um ihn sorgte wie damals seine Mutter. Er wollte einen großen Eisbecher oder ein Stück Schokolade, obwohl das vielleicht nicht so gut war für seinen Zahn. Auf jeden Fall war er ein Mann im Schmerz, und er wollte bemitleidet werden.
Doch Gertrud, die ihren Gatten in zwanzig Jahren Ehe gut kennengelernt hatte, spielte nicht mit. „Geh doch zum Zahnarzt“, erwiderte sie ungerührt und legte eine geschälte Kartoffel in den Topf mit dem Wasser.
„Aber ich habe Zahnschmerzen.“ Hanno war den Tränen nahe.
„Das sagtest du bereits“, sagte seine Frau. „Du hast zwei Möglichkeiten. Zum Zahnarzt gehen oder es aushalten.“
„Aushalten?“ Hannos Stimme bebte vor Furcht.
„Den Schmerz.“
„Zahnarzt?“ Die Furcht wuchs an zum blanken Entsetzen.
„Die Nummer von Dr. Breuer findest du ihn den Gelben Seiten, und nun laß mich in Ruhe. Ich muß Kartoffeln schälen.“
Hanno schluckte und kratzte sich hilflos am Kinn. Aber seine Frau nahm keine Notiz mehr von ihm.
„Also gut“, seufzte er. Schließlich war er ein Mann. „Dann will ich mal Dr. Breuer anrufen.“ Und er ging hinüber in die Stube.
In der Stube auf dem Schreibtisch lagen die Gelben Seiten, und Dr. Breuer war schnell gefunden. Weil sein Name mit einem B begann, stand er schon an zweiter Stelle in der Liste der Zahnärzte, gleich nach einem gewissen Dr. Ast.
Die ganze Familie, inklusiver seiner Schwiegereltern, war bei Dr. Breuer in Betreuung. Hanno fühlte sich kurz versucht, gegen seine Frau und die Familientradition zu rebellieren und Dr. Ast anzurufen. Doch die Vernunft siegte, und er rief die Praxis Breuer an.
Die Sprechstundenhilfe meldete sich schon nach dem zweiten Klingeln. Das war nicht gut. Das war viel zu schnell gegangen. Hannos Atem ging unregelmäßig und sein Herzschlag beschleunigte sich.
„Zahnarztpraxis Breuer, was kann ich für Sie tun?“ Die Stimme der jungen Frau am anderen Ende der Leitung klang nett und verbindlich.
„Ja“; stammelte Hanno, „hier ist Müller, Hanno Müller.“
„Hallo, Herr Müller“, sagte die Sprechstundenhilfe, „Wie kann ich Ihnen helfen? Brauchen Sie einen Termin?“
„Nun, ja“, meinte Hanno und versuchte, ungewiß zu klingen.
„Einen Augenblick.“ Auf der anderen Seite der Leitung trat kurzzeitiges Schweigen ein. Dann meldete sich die Dame wieder. „Haben Sie Beschwerden, Herr Müller?“
Eine Frage wie eine Keule. Hanno stand wie vom Donner gerührt.
„Herr Müller?“ Die Sprechstundenhilfe am Telefon klang ein wenig besorgt.
Hanno rang nach Fassung und sagte: „Vielleicht.“
„Ich verstehe.“
Hanno meinte, die Sprechstundenhilfe kichern zu hören und runzelte die Stirn.
„Sie haben Glück, Herr Müller“, sagte nun die Sprechstundenhilfe. „Dr. Breuer hat noch heute nachmittag für Sie Zeit. Können Sie in einer Stunde hier sein?“
„In... in einer Stunde?“ Hanno kämpfte gegen eine Ohnmacht. „Gewiß“, keuchte er. „In einer Stunde. Gar kein Problem.“
„Gut“, flötete die Sprechstundenhilfe. „Dann bis gleich, Herr Müller.“
Ein Knacken in der Leitung zeigte an, daß sie aufgelegt hatte.
Auch Hanno hängte den Hörer wieder ein. Seine Knie waren weich wie Butter. Mühsam stakste er in die Küche, wo seine Frau inzwischen die Kartoffeln auf den Ofen gesetzt hatte.
„In einer Stunde habe ich einen Termin bei Dr. Breuer.“
Keine Reaktion von Hannos Frau.
„Ich habe einen Termin bei Dr. Breuer, dem Z-a-h-n-a-r-zt“, wiederholte Hanno und gab sich Mühe, das Wort „Zahnarzt“ so gedehnt wie möglich auszusprechen.
„Gut“, erwiderte Gertrud kurz.
„Ich muß mich dann auf den Weg machen“, sagte Hanno und wünschte sich, Gertrud würde ihn begleiten.
Aber die sagte nur: „Tschüß!“ Dann begann sie, Möhren zu schneiden.
Der Weg durch die Stadt war eine Hölle für Hanno. Er sah all die Menschen, die fröhlich und sorgenfrei an ihm vorüber gingen, während er, mitten im Elend verlassen und allein, durch die Straßen schlich, sich aufrecht haltend nur durch seinen reinen Willen, nicht als die Memme erkannt zu werden, die er war.
Hanno hatte schon als kleiner Junge große Angst vor dem Zahnarzt gehabt. Jeder Besuch bei diesem Doktor war mit Schmerzen verbunden gewesen, und weil Hanno als Kind sehr schlechte Zähne hatte, er liebte eben Lutscher und knabberte immer an diesen herum, mußte er oft zum Zahnarzt, und der bohrte jedes Mal.
Mittlerweile war Hanno Aufsichtsratsvorsitzender einer großen Firma und hatte eine bedeutende Rolle im Stadtrat inne, aber tief in ihm steckte immer noch Klein-Hanno, mit dem Dauerlutscher in der einen und dem Becher zum Mund-Auspülen in der anderen Hand, der sich einmal sogar wegen der Angst vor dem Zahnarzt naß gemacht hatte. Damals war er schon dreizehn Jahre alt gewesen.
Es war nicht nur der Schmerz, den Hanno fürchtete, denn die Schmerzen, die ihm sein Zahn im Augenblick bereiteten, waren schon groß genug. Es war das Ausgeliefert-Sein, dieser Stuhl, der einen in eine hilflose, halb liegende, halb sitzende Position brachte. Und dann kam da einer, um mit seltsamen technischen Instrumenten wer was in seinem Mund zu machen, während er nicht die geringste Kontrolle darüber hatte, denn schließlich sah er nicht, was der Zahnarzt da genau trieb. Und dann dieses Lächeln, dieses sardonisch-freundliche Zahnarztlächeln, das meist von dem Satz „Ach, so schlimm war das doch gar nicht“ begleitet wurde, das Hanno jedes Mal die Haare zu Berge stehen ließ.
Und dann immer dieses „Nun machen wir mal den Mund waaaaait auf“, gefolgt von einem Blick hinein in den Rachenraum, dem Herumkratzen an allen Zähnen. Dann das Stirnrunzeln zusammen mit einem „oh, oh“ (wobei der Vokal sehr kurz artikuliert wird) und einem Kopfschütteln. Und dann hatten sie noch einen Lieblingssatz, der Hanno bis ins Mark traf. „Sie hätten viel früher kommen müssen.“
Zahnärzte waren die schlimmsten Ärzte von allen. Sie waren in Hannos Vorstellung noch schlimmer als Neurochirurgen oder Proktologen. Vor allem, wenn sie lächelten, denn das bedeutete selten etwas Gutes.
Wenig später saß Hanno auf Dr. Breuers Behandlungsstuhl. Seine Kehle war trocken. Er atmete tief ein und aus, als Dr. Breuer sich über ihn beugte und mit einem Lächeln sagte: „Nun machen wir mal den Mund waaaaait auf!“
Dr. Breuer hatte, um die Patienten von der Behandlung abzulenken, ein schönes Bild an der Decke anbringen lassen. Es zeigte eine idyllische Seenlandschaft mit blauen Himmel und Wolken weiß wie Zuckerwatte. Über den See trieb ein einsames Boot, und im Hintergrund ragten schneebedeckte Berggipfel hoch auf. Hanno betrachtete dieses Bild eine Weile, bis Dr. Breuer die Lampe am Stuhl so positionierte, daß sie die Mundhöhle des Aufsichtsratsvorsitzenden gut ausleuchtete und diesem den Blick auf das Bild versperrte.
Hanno konnte jetzt nur noch in das weiße, unfreundliche Gleißen einer Energiesparlampe blicken.
Dr. Breuer indessen machte sich an den Zähnen zu schaffen. „Haben Sie Beschwerden, Herr Müller?“
„Ma“, machte Hanno, in dessen Mund sich beide Hände des Zahnarztes mit allen zehn Fingern und zwei metallischen Gegenständen befanden.
„Oh, oh, ich sehe es schon“, meinte Dr. Breuer und runzelte die Stirn. „Sie hätten viel früher kommen müssen.“
Hanno war den Tränen nahe.
Dann kam der schlimmste Satz von allen, an den Hanno kaum zu denken wagte.
„Hier läßt sich nicht mehr viel machen“, sagte der Zahnarzt und reichte Hanno einen Becher zum Mund-Ausspülen. „Der muß raus.“ Er ließ Hanno für einen Augenblick allein und ging an die Tür seines Sprechzimmers: „Fräulein Stein, kommen Sie bitte, ich brauche Ihre Hilfe.“
Sofort erschien die adrette Sprechstundenhilfe mit ihrem altertümlichen Häubchen und dem weißen Kittel, der kaum länger war als ihr Rock.
Hanno versuchte, sich aufzusetzen und rief: „Nein, nein, das will ich nicht! Können Sie mir nicht einfach was gegen die Schmerzen geben?“
„Herr Müller“, sagte Dr. Breuer mit väterlicher Stimme und drückte Hanno kraftvoll in den Behandlungsstuhl zurück, „der Zahn muß raus. Nun stellen Sie sich nicht so an! Wenn der Zahn draußen ist, werden Sie keine Schmerzen mehr haben. Und Sie bekommen von mir eine Spritze zur Betäuben. Sie werden nicht das Geringste spüren. Und nun entspannen Sie sich und schauen Sie sich das schöne Bild vom Starnberger See an.“
Hanno, nun wieder zurückgelehnt, starrte in das Licht der Energiesparlampe, die Dr. Breuer nicht beiseite genommen hatte. Der Starnberger See. Ludwig der II. war darin ertrunken. Hatte der nicht auch immer so große Beschwerden mit seinen Zähnen gehabt? Vielleicht, so ging es Hanno durch den Sinn, hatte sich der Märchenkönig ertränkt, um einer Behandlung durch den königlichen Zahnarzt zu entgehen. Hanno sehnte sich auf einmal sehr nach dem Starnberger See, obwohl er nie dort gewesen war. Es zog ihn einfach nicht nach Bayern. Aber vielleicht, wenn der „Kini“, wie Ludwig der II. liebevoll von seinen einheimischen Königstreuen genannt wurde, ein Bruder im Geiste war oder zumindest ein Genosse im Leid...
Hier mußte Hanno seinen Gedanken unterbrechen, denn Dr. Breuer nahte mit einer Spritze von absurder Größe. „Nun machen wir den Mund mal waaaaait auf! Waaaait auf, Herr Müller! Sie müssen schon mitmachen!“
Jeder Vernunft zum Trotze öffnete Hanno den Mund, und Dr. Breuer rammte ihm die Nadel mit aller Gewalt ins Zahnfleisch. „Das wird jetzt ein klein wenig drücken.“
Es drückte nicht. Es tat weh wie Hölle, und hätte Hanno nicht die Hände seines Zahnarztes und eine große Spritze im Mund gehabt, hätte er laut geschrieen. So aber entrang sich seiner Kehle nur ein dumpfen Ächzen.
„So, geschafft.“ Dr. Breuer rieb sich zufrieden die Hände und lächelte – bösartig, wie es Hanno erschien. „Jetzt warten wir zehn Minuten, bis die Betäubung wirkt.“
Zehn Minuten verstrichen, und Dr. Breuer kehrte zurück. Sofort machte er sich an Hannos Zahnfleisch zu schaffen und piekste ihn heftig mit einem nadelspitzen Instrument. „Spüren Sie das?“, fragte er dabei immer wieder.
„Ma“, machte Hanno hilflos.
„Hm“, sagte Dr. Breuer nachdenklich. „Die Betäubung wirkt nicht. Ich werde Ihnen noch eine Spritze geben. Fräulein Stein!“
Auch die zweite und eine dritte Betäubungsspritze brachten keine Wirkung. Der Schmerz wurde nur ein wenig gedämpft.
Aber Dr. Breuer ließ sich davon nicht abhalten. „Nun, aus irgend einem Grund sprechen Sie nicht so gut auf die Betäubung an. Aber wir schaffen das trotzdem.“ Und lachend setzte er hinzu: „Einfach die Zähne zusammenbeißen!“
Dann begann Dr. Breuer sein Werk. Mit einem zangenartigen Folterwerkzeug, um das ihn jeder spanische Inquisitor beneidet hätte, näherte er sich Hannos Mund und faßte beherzt zu. Er zog und rüttelte mit aller Kraft an Hannos krankem Zahn. „Oh, der sitzt aber fest“, keuchte er unter der Anstrengung, und Hanno verlor das Bewußtsein.
Als Hanno wieder zu sich kam, zeigte ihm Dr. Breuer stolz den herausgerissenen Zahn, der noch ganz blutig war. „Na, so schlimm war das doch gar nicht! Hier haben wir den Übeltäter!“, rief er. „Sie dürfen ihn mitnehmen, wenn Sie wollen.“ Er packte ihn in eine kleine Plastikschachtel und reichte ihm Hanno. „Legen Sie ihn sich heute abend unters Kopfkissen. Vielleicht kommt die Zahnfee vorbei und bringt Ihnen was Nettes dafür.“
Hanno dankte stumm und erhob sich.
„Ach, ehe ich es vergesse, Ihren Zahnstein müßten wir uns auch mal vornehmen.“ Ein Funkeln, das Hanno nicht anders als mordlüstern bezeichnen könnte, lag in Dr. Breuers Augen. „Lassen Sie sich, wenn Sie gehen, von Fräulein Stein einen Termin geben. Am besten schon nächste Woche.“
Hanno nickte nur und ging davon ohne Abschiedsgruß. Fräulein Stein hatte den Termin schon vorbereitet und drückte ihm im Hinausgehen den Zettel, auf dem Datum und Zeit vermerkt waren, in die Hand. „Auf Wiedersehen, Herr Müller, und bis bald!“
Draußen auf der Straße fiel die Furcht endlich von Herrn Müller ab. Bis zum nächsten Termin dauerte es noch eine Woche. Eine lange Zeit, in der viel geschehen konnte. In einer Woche konnte man sich sogar einen neuen Zahnarzt suchen, wenn man das wollte. Aber Hanno wußte, daß das Streit mit seiner Ehefrau brächte, und so würde er es bleiben lassen.
Nun wollte er sich auf den Rückweg machen, und passierte es. Die Wirkung der Betäubungsspritzen setzte ein. Mit solcher Wucht, daß Hanno sich setzen mußte, und zwar, weil keine Bank in der Nähe war, auf den Gehweg. Er hatte nicht das mindeste Gefühl mehr in seinem Gesicht, und vor seinen Augen drehte sich alles.
Mit buchstäblich letzter Kraft zog er sein Mobiltelefon aus dem Mantel und rief zu Hause an. „Gertrud, kannst du mich abholen. Ich war gerade beim Zahnarzt.“

Sonntag, 20. Februar 2011

LIED ZUR NACHT




Mein Großvater
ist eine Rose.

Er blüht
im Garten hinterm Haus.

Er zählt
für mich
die Sommer meines Lebens.

Ich lasse
die Dornen
meine Hände durchbohren.

Solche Schmerzen
überdauern
die Zeit.