Dienstag, 24. März 2009

SIE SPRACHEN AUF IHREN BAHREN

Sie sprachen auf ihren Bahren:
"Du machst deinen Weg."

Doch sie sagten mir nicht,
wohin und wohin
und wohin
ich gehen soll.

Sie sagten:
"Du machst
deinen Weg."

Und ich sah:
Da ist kein Weg,
wenn ich
ihn nicht mache,
ihn nicht bahne,
ihn vorwärts treibe
wohin
auch immer.

Wälder
muß ich niederreißen,
Tunnel
in Berge graben,
Brücken
spannen
über die Meere.

Mit den Fischen
im Wasser,
mit den Vögeln
in der Luft,
mit
den Engerlingen
unter der Erde -
da ist kein Weg,
wenn ich ihn nicht mache,
nicht bahne,
nicht
in die Felsen schlage.
Wohin
auch immer.

Sonntag, 22. März 2009

Leipziger Buchmesse II: IN DER HÖRBUCH-HÖLLE

Als die Römer die Schreibkultur zu den Kelten und Germanen brachten, klagten die Druiden. Sie beschworen den Niedergang der Kultur und des Wissens. Etwas aufzuschreiben, war in ihren Augen ein Sakrileg. Geschriebenes sei tot, sagten sie, und nur lebendiges Wissen wäre das, woraus es ankäme.
Die Druiden selbst schrieben kein Wort auf. Deshalb wissen wir auch kaum mehr von ihnen.
Doch ihre Worte machen nachdenklich. Denn vielleicht hatten sie recht.

Durch das geschriebene Wort wurde aus lebendiger Weisheit Bücherwissen. Aus Bücherwissen wurde Information. Man kann Geschriebenes eben "getrost nach Hause tragen", und man kann sich darauf verlassen, daß einem das Wissen zur Verfügung steht. Wissen, wo es geschrieben steht, statt einfach nur zu wissen.

Aber wer weiß. Einzig unwandelbar ist, wie schon der Buddha lehrte, nur der ewige Wandel. Vielleicht befinden wir uns auf einem Weg, der heraus führt der Schreibkultur unserer Tage.
Ein Indiz für diese Veränderung ist die zunehmende Beliebtheit, die von den Menschen, vor allem von den sogenannten bildungsbürgerlichen Schichten dem Hörbuch entgegengebracht wird.
Ein Hörbuch ist, wie der Name schon sagt, ein Buch zum Hören. Auf mehreren leicht handhabbaren CDs oder Kassetten befindet sich, meist von hochkarätigen Rezitatorenn eingelesen, ein Roman in ganzer Länge, den man nach eigenem Gutdünken hörend rezipieren kann. Man wirft einfach die CD in die Stereoanlage oder das Autoradio, und schon befindet man sich mitten drin in der Welt der klassischen oder modernen Literatur.
Hörbücher sind zur Normalität geworden. In Buchhandlungen nehmen sie schon fast soviel Raum ein wie die althergebrachten papiernen Bücher. Jeder Verlag, der etwas auf sich hält, bringt einen Roman gleichzeitig als Buch und als Hörbuch heraus. Daß Hörbücher dabei um einiges teurer sind, scheint kaum einen dabei zu stören. Immerhin richten sich die meisten dieser Lesungen an ein Publikum, das ohnehin kaum von wirtschaftlichen Engpässen betroffen ist.

Das Hörbuch wird als Erfolgsmodell verkauft, weil es angeblich auch die so sehr umworbenen "jungen Konsumenten" an Literatur heranführt.
Es nimmt also nicht Wunder, daß auch die Leipziger Buchmesse dem Hörbuch einen großen Raum eingerichtet hat.
Ja, die Hörbuchhölle befand sich in Halle 3. Gleich um die Ecke konnte man sich das E-Book vorführen lassen, und ironischerweise war in selbem Saal auch die Leipziger Antiquariatsmesse - ein fester Bestandteil der Buchmesse - untergebracht. So waren literarische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft harmonisch unter einem Dach vereint.
Die Hörbucher ber herrschten unbeschränkt in der ganzen Mitte der Halle. Es gab keinen Weg daran vorbei. Ich versuchte lange und vergeblich, den Stand des Campus-Verlages zu finden, doch unter den Hörbüchern verlor ich meine Orientierung.
Es gibt mit Sicherheit kein Buch mehr, daß es nicht als Hörbuch gibt. Und für die, denen das auch noch zu anstrengend ist, ist vieles bereits als Hörspielversion zusammengefaßt.

Was für Zeiten sind das doch, in denen wir leben! Man muß nicht einmal mehr lesen können, um sich mit der Literatur der Welt vertraut zu machen.
Viele könnten es auch nur lesend gar nicht mehr.
Der Bundesverband fpr Alphabetisierung und Grundbildung e.V. spricht von 4 Millionen Analphabeten in Deutschland. Man kann aber davon ausgehen, daß die Dunkelziffer weit höher ist. Es genügt nicht, nur lesen und schreiben zu können. Mancher kann zwar schreiben, ist aber trotzdem nicht in der Lage, klare und grammatikalisch korrekte Säzte zu formulieren. Andere können lesen, verstehen da Gelesene aber nicht.

Das scheint keinen zu interessieren. Medienwirksam beklagen zwar immer wieder ein paar Politiker die Bildungsmisere in Deutschland, doch das, was jene unter Bildung verstehen, ist nichts weiter als die "Ausbildung" eines getreuen Konsumenten, Staatsbürgers und Arbeitnehmers. Um wahre Bildung, "Menschenbildung" nannte es Schiller, geht es doch schon lange nicht mehr.
Die großen Ideale der Aufklärung sind dahin. Keiner ruft mehr den Menschen, wie einst Immanuel Kant, ein "Wage es, zu denken!" zu oder fordert den "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unnmündigkeit". Nein. Heute ist diese Unmündigkeit überaus erwünscht.

Und die Hörbücher, bei allem Nutzen, den sie bringen mögen, sind auf lange Frist nur ein weiterer Schritt in diese Richtung. Fatalerweise sind einige dieser Hörbücher sehr schön gemacht. Ich erinnere an die Harry-Potter-Aufnahmen von Stephen Fry oder an die Lesung "The Return of the Native" (Roman von Thomas Hardy) von Alan Rickman.
Hörbucher sind, um nicht allzu sehr in eine Richtung auszuschlagen, eine wertvolle Ergänzung, nur sollte man sich hüten, sie überzubewerten und sie zu mehr zu machen, als sie sind.
Man braucht auch für "die Jugend" keine Hörbücher, um sie an Literatur heranzuführen. Dafür braucht man einfach nur gute und spannende Bücher. JKR hat es gezeigt. Was wir brauchen, sind leidenschaftliche Autoren und Verleger. Dann werden wir auch leidenschaftlich lesen können.

Ich selbst - man ahnt es bereits - bin keine große Freundin von Hörbüchern. Ich brauche ein Buch, um es zu lesen. Ich will in meiner eigenen Geschwindigkeit lesen, und ich will das in den Text hineinlesen können, was ich darin sehe, denn ein vorgelesener Text hat zwei Väter und Mütter - die Autoren und die Rezitatoren. Das muß man wissen.
Selbst zu lesen, ist auch ein Stück Freiheit der Phantasie. Wenn ich ein Buch lese, trete ich in eine Welt ein, die voller Geräusche und Gerüche und sichtbarer Dinge ist. Alle Sinne spricht das Lesen an. Ich höre die Figuren geradezu reden.
Das geschieht nicht, wenn ich nur Zuhörerin bin.

In unseren Breiten gibt es keine Druiden mehr. Wohlaber in Wales. Diese Druiden aber sind weder Seher noch Schamanen. Sie sind Dichter. Sie schreiben Bücher und lehnen das tote Geschriebene nicht mehr ab.
Das Buch als Hüter und Träger des Wissens wird nicht verloren gehen. Meiner Generation jedenfalls nicht.
Für die, die nach uns kommen, kann ich nur hoffen.

Freitag, 20. März 2009

Leipziger Buchmesse: Nachlese - Die Erste

Vom 12. bis zum 15. März 2009 traf sich wieder alles, was Rang und Namen im deutschen Literaturbetrieb hat und anstrebt, auf dem Messegelände zu Leipzig. Wie in all den Jahren zuvor waren viel Hallen angefüllt mit Ständen und Präsentationen vieler Verlage, Händler und Agenturen.
Es gab viel zu sehen, viel zu erleben, viel zu lernen - und vor allem: viele Bücher!


Ich hatte das Glück, am Freitag, auch wenn es der Dreizehnte war, auf der Messe zu weilen und nicht an einem der Tage des Wochenendes, an denen die Messe von Besuchern aller Art nahezu überschwemmt wurde.
(Der neue Besucherrekord am Ende der Messe ließ da auch nicht auf sich warten.)
Der Tag begann für mich allerdings mit einer Lehre: Folg nicht der Masse, ohne dich umzuschauen.
Auf dem Weg über den Parkplatz hin zum Eingang geriet ich in eine Gruppe von Schülern, die mit zwei Lehrern oder Erziehern einem Bus entstiegen waren. Sie gingen über den Parkplatz, und kurz vor dem Eingang bogen ab und stiegen eine Treppe hinab. Ich wollte ihnen folgen, doch ich zögerte. Zu meiner Rechten stand ein großes Schild mit der Aufschrift "EINGANG". Daneben war ein Gitter, und bei dem Gitter stand ein Wachmann. Ich entschloß mich, ihn anzusprechen.
"Entschuldigen Sie, ist hier der Eingang zur Messe?"
Der Wachmann bestätigte das. Ja, ich könne hier eintreten. Kein Problem. Der ganz normale Nebeneingang.
Verwundert fragte ich: "Warum sind diese da", damit meinte ich die Schülergruppe, "dann dort hinab gegangen."
Der Wachmann zuckte mit den Achseln und meinte: "Das weiß ich auch nicht."
Nun, ich ging also hinein, fand sofort einen freien Schalter, an dem ich mir meine Eintrittskarte und einen Ausstellerkatalog besorgte, ich ging durch die Schranke und war drin.

Auf dem Weg zur Halle 4 - durch einen der erhabenen Durchgänge, die überirdisch die beiden Flügel der Messe mit einander verbinden - fiel mein Blick zu den Kasseschaltern am Haupteingang. Dort standen die Menschen dicht gedrängt bei einander. Ja, das war mir erspart geblieben. Ebenso war es eine glückliche Fügung, daß sich die Schülergruppe einen anderen Eingang gesucht hatte, hätte ich ja sonst hinter ihnen oder in deren Mitte mich um die Schalter am Nebeneingang drängen müssen.

Halle 4. Halle 4 war mein Messe-Höhepunkt.
Dort waren vor allem Klein- und Nischenverlage versammelt, und es gab viel Raum für interessante Entdeckungen.

Dabei freute mich eines besonders: Das "POESIEALBUM" ist wieder da. Und zwar schon seit 2008. Aus DDR-Zeiten kennt man vielleicht noch diese interessante Zeitschrift, die in kurzer Form zeitgenössischer und klassischer Lyrik eine Plattform bot. Als Nachgeborene kenne ich diese Heftchen leider nur aus dem Antiquariat.
Aber nun gibt es sie wieder. Der nächste Band ist Seamus Heany gewidmet. Ich nahm mir am Stand des Märkischen Verlages ein wenig Werbematerial mit und das Heftchen mit Ezra-Pound-Gedichten.
Und ich freue mich auf weitere Hefte.
Am Stand des Jenaer Quartus-Verlages erstand ich einen Band mit Thüringer Minneliedern.
Und mir fiel eine Anthologie mit Texten isländischer Autoren in die Hände, die von der Edition DIE HOREN herausgegeben wurde.
Es war wieder einmal eine Entdeckungsreise.

Die Vielfalt ist das Besondere dieser Verlage, die zu Unrecht klein genannt werden, denn sie besetzen Nischen, die von den großen Publikumsverlagen schon seit langer Zeit entweder übersehen oder einfach bewußt nicht mehr bedient werden. Hier findet man noch immer die besonderen Bücher und Ausgaben, die sich von der großen Masse der in Deutschland publizierten Literatur abhebt.

Nicht ohne Wehmut verließ ich die Halle 4.
In Halle 3 erwartete mich die Hörbuch-Hölle. Doch darüber mehr zu einem späteren Zeitpunkt.

Sonntag, 15. März 2009

JEDER SCHMIEDET SEIN GLÜCK

Jeder schmiedet sein Glück
nach eigenem Willen:
aus Silber,
Eisen
und Gold,
mit leichtem und schwerem Hammer,
im roten Feuer,
in blauen Flammen,
zu Schwert
und Geschmeide
und Schild.

Jeder schmiedet sein Glück
aus trüben und frohen Gedanken,
mit stumpfen und wachem Sinn,
bei Tage, zur Nacht
und im Zwielicht.

Jeder schmiedet sein Glück
zur Suche,
zur Stille,
zum Frieden,
zur Wanderschaft,
zum Kampf,
zum Leben,
zur Liebe
und zum Tod.

Jeder schmiedet sein Glück,
um es in Händen zu halten,
wenn die Stürme
über uns kommen.

Samstag, 14. März 2009

IMPRESSIONEN: Thüringer Dorf im Vorfrühling





Familienfest

In der Literatur sind Familienfeste oft der Hintergrund für die großen Dramen. Unglück deutet sich an, Streit bricht aus, Menschen entzweien sich oder finden zu einander. Frieden und Krieg, Haß und Liebe.

Doch die Wirklichkeit ist manchmal sehr viel trister.
Da geschieht auf den Familienfesten - gar nichts. Und vielleicht ist das am besten so.

Mancher kennt das vielleicht. Man sitzt dabei und gehört doch nicht dazu. Man ist kein Teil der Gemeinschaft. Nur der Höflichkeit halber eingeladen. Man wird geduldet, und verläßt man den Raum, dann stecken die anderen die Köpfe zusammen.

Das aber ist kein Drama. Es ist auch kein Unglück.
Es ist eben manchmal einfach so.

Es ist auf der anderen Seite auch ein Stück Freiheit, das sich zu bewahren und zu schätzen lohnt.
Schließlich bringt es uns in der Regel auch nicht weiter, wenn wir unser Leben nach den Vorstellungen der anderen führen.

So lernt man doch auf den Familienfeiern: Man erfährt, wem man vertrauen kann und wem nicht.
Und das Wissen kann uns stark machen, selbst wenn wir erkennen, daß wir am Ende nur uns selbst vertrauen können.

Montag, 9. März 2009

Eine Warnung

Ich möchte an dieser Stelle eine Warnung aussprechen.
Keine Angst, es geht nicht um die Wirtschaft, das Klima oder den Weltuntergang. Es geht um unsere Mitmenschen.

Im Leben widerfährt es uns immer wieder, daß wir verraten und verlassen werden. Versprechen werden gebrochen, in der Not läßt man uns im Stich. Menschen verschwinden klammheimlich ohne ein Wort der Entschuldigung. Sie lassen uns in offene Messer rennen und verletzen uns - manchmal aus Versehen, manchmal mit kalter Berechnung - immer wieder das Herz aus dem Leib.
Ja, das wirft uns zu Boden. Das treibt uns in die Verzweiflung.
Doch davon dürfen wir uns nicht verwirren lassen.

Es wußte doch schon Hölderlin: "WO ABER GEFAHR IST, WÄCHST DAS RETTENDE AUCH."

Es sind nicht alle Menschen so. Immer wieder treffen wir auf Menschen, die uns helfen, die für uns da sind, die uns unter die Arme greifen und uns beistehen. Sie hören uns zu und sind einfach da, wenn wir sie brauchen.
Auf sie können wir uns verlassen.

Wenn wir uns das Herz verhärten lassen, weil wir nur an die Menschen denken, die uns Schmerz und Unrecht zugefügt haben, gehen wir vielleicht an den guten, freundlichen Menschen vorüber und scheren sie mit den anderen über einen Kamm.
Das wird uns auf Dauer einsam werden lassen.

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.

Dazu kommt noch etwas: Wie wichtig ist das, was uns andere Menschen antun? Und wie wichtig das, was wir anderen Menschen an Schmerz und Glück zufügen?

So, ein paar Gedanken.
Und laßt euch nicht die Herzen verhärten. Das ist es nicht wert.

Montag, 2. März 2009

FRÜHLINGSGRUSS



Dieses Mal ohne Worte.
Ein Frühlingsgruß von den Winterlingen aus unserem Garten.

Sonntag, 1. März 2009

APOLDA -Der Blick nach Oben


Die Großstadt ist ein Traum, wenn man in Apolda lebt. Ich schreibe das ohne jegliches Urteil. Sie ist keine strahlende Erscheinung und auch kein Alpdruck. Sie ist ein Fernes, ein Unvorstellbares.
Apolda ist eine Stadt, die sich schon am Nachmittag zur Ruhe legt. Am Sonnabend ist sie schon vor dem Mittagsläuten eingeschlafen. Sie träumt nicht mehr. Ihr Schlummer ist ohne Erscheinung. Ein tiefes, schweres Ruhen, ein leeres Rauschen, und man kann sie verhalten atmen hören, wenn man durch die Gassen geht. Dann spürt man, wie ruhelos sie ist, trotz alledem.
Die Straßen sind eng, haben keinen Horizont, und sie sind voller Schatten. Wenn es regnet, steigt kalter, metallener Dunst auf, der sich als bitterer Geschmack auf Zunge und Gaumen legt. Man muß sehr weit nach oben steigen, um Licht zu erblicken, um über die Stadt hinaus zu sehen. Dort gibt es Felder, ausgedehnte Wiesen, Waldstücke, anmutige Berge. Im Inneren vergißt man das schnell.
Vieles vergißt man in Apolda. Zwischen bewohnten Häusern stehen leere Fabrikhallen. Überreste einer vergangenen Zeit und einer vergangenen Größe. In der Tat war Apolda einstmals eine wohlhabende Stadt. Das Strickerhandwerk hatte sie reich gemacht, und von weither kamen die Menschen, um hier zu leben und zu arbeiten. Und sie fand Erwähnung in den Werken Goethes und Thomas Manns. Auch heute kommen die Menschen noch. Doch sie bleiben stets nur auf Durchreise.
Neben dem Busbahnhof befindet sich das Altersheim. Beide sind Orte, an denen man darauf wartet, nach Hause zu fahren. Überhaupt ist Apolda eine Stadt, die man verläßt. Niemand bleibt hier, dem andere Wege offen stehen. Andere Orte rufen nach denen, die gehen, Orte, die vielleicht nicht schöner oder lebendiger sind, aber größer, lauter und weniger verfallen.
Alles strebt zum Licht, aber hier will die Sonne nicht scheinen. Selbst die Sommer sind nur schwül und heiß. Dann fällt das Atmen schwer zwischen den Häusern. Zu viel Stein hemmt das frische Leben.
Ich weiß nicht, ob Apolda ein guter Ort zum Leben ist, aber zum Sterben ist er so gut, wie jeder andere auch; und die Zeit des Todes kann hier auf angenehmste Weise verbracht werden. Einer der schönsten Orte der Stadt, neben dem Alten Schloß und dem Parkdeckdach des Supermarktes, ist der Friedhof. Er ist schattig und kühl. Hier ragen die Bäume hoch auf in den Himmel, und alles ist von einem dichten Gebüsch umgeben und durchdrungen. Ein verwunschener Garten, wie ihn Kinder sich erträumen, die noch an Märchen glauben. Man schleicht an alten Grabmälern vorbei, die prunkvollen Mausoleen gleichen und vergißt gleichsam, daß draußen die graue Stadt noch immer nicht verschwunden ist. Auf dem Friedhof ist es anders. Die Zeit schweigt, aber die Vögel singen. Eichhörnchen tummeln sich in den Wipfeln der Blutbuchen. Schmetterlinge umwirbeln die Efeuranken. Auf einigen Gräbern brennen Kerzen. Lichter der anderen Welt, der man hier näher zu kommen meint. Ein Schritt weiter, und man ist hinüber gegangen.
Mein Lieblingsort in Apolda aber ist das Oberste Parkdeck eines großen Supermarktes. Dieser befindet sich mitten in der Stadt, am tiefsten Punkt des Tales, über das die Stadt ausgebreitet liegt gleich dem Unterholz eines Gebirgswaldes. (Menschen wie Bäume. Sie scheinen einander zu fliehen, und doch sind sie verbunden, gleichsam gegen ihren Willen. Vielleicht, weil beide – die Bäume und die Menschen – beseelten sind, und ihre Seelen, auch wenn ihre Leiber nach außen streben, zieht es immer wieder zusammen, weil EINE Seele alles Leben umfaßt.) Das Parkdeckdach des Supermarktes ist ein besonderer Ort, beinahe magisch. Man ist erhoben, ja erhaben. Aber man überragt die Stadt nicht. Man schwebt auf einer Höhe mit den Kirchtürmen und den Hügeln, die Apolda umschließen. Man enthebt sich dennoch der chthonischen Kleinstadt, man entflieht in ein Anderes, eine Wolkenstadt. Die Ahnung eines neuen, eines Himmlischen Apolda, das am Jüngsten Tag wie ein Traum über uns kommen mag, erfüllt den, der den Blick vergeblich in die Ferne richtet. Nur der Himmel öffnet sich dem Schauenden. Entrückung, die ein Nebel ist. Man ist nicht fremd. Man fühlt sich als Teil – der Wolken, der Hügel, des Himmels. Man wird selbst ein Nebel und meint, vom nächsten Wind davongetragen zu werden. Und während man in stummer Betrachtung des Augenblicks verweilt, fließt der nicht versiegende Strom derer, die im Supermarkt nur nach Waren suchen und anderes vergessen haben. In Augenblicken wie diesen fühlt man sich beinahe zu Hause, dann ist Heimat mehr als ein Wort, doch alles zerfällt zu Tau auf dem grauen Asphalt der Straßen.
So endet der Tag; und mit flammendem Abendrot wirft sich die Dämmerung über die Stadt. Noch ehe die Sonne untergegangen ist, fallen die Schatten über die Gassen, und hinter den Fenstern entzünden sich Lichter. Aber der Vollmond leuchtet hell. Silberne Strahlen stürzen auf uns nieder, die Sterne leuchten auf, und die Nacht ist wie Seide, ein Hochamt der Stille, ein Gebet um Frieden und Schönheit, und ein Schrei, der grell hinaus fällt vom Grau in das Nicht-Sein der Unendlichkeit.
Vielleicht ist Heimat eine Entscheidung, die jeder für sich allein fällen muß. Und dann muß man bestimmen, ob Heimat ein Ort ist, den man verläßt, an dem man bleibt, oder zu dem man eines Tages zurück kehren will.
Wer in Apolda bleibt, hat nicht immer diese Entscheidung getroffen. Viele bleiben, weil hier der einzige Ort ist, an dem sie sein können. Doch das gilt auch für viele von denen, die gehen.
Mag sein, daß man in den Großstädten der Welt freier atmen kann, doch Einsamkeit ist sich immer gleich, an allen Orten der Welt, ebenso Liebe, Freundschaft und Glück. Es ist nicht wichtig, wo man gerade ist. Gottes Wind weht überall, und auch über Apolda geht er hinweg, Tag für Tag. Gott hat uns nicht verlassen in Apolda, auch die Hoffnung ist uns geblieben, und das ist hier ein großes Wort.