Sonntag, 1. März 2009

APOLDA -Der Blick nach Oben


Die Großstadt ist ein Traum, wenn man in Apolda lebt. Ich schreibe das ohne jegliches Urteil. Sie ist keine strahlende Erscheinung und auch kein Alpdruck. Sie ist ein Fernes, ein Unvorstellbares.
Apolda ist eine Stadt, die sich schon am Nachmittag zur Ruhe legt. Am Sonnabend ist sie schon vor dem Mittagsläuten eingeschlafen. Sie träumt nicht mehr. Ihr Schlummer ist ohne Erscheinung. Ein tiefes, schweres Ruhen, ein leeres Rauschen, und man kann sie verhalten atmen hören, wenn man durch die Gassen geht. Dann spürt man, wie ruhelos sie ist, trotz alledem.
Die Straßen sind eng, haben keinen Horizont, und sie sind voller Schatten. Wenn es regnet, steigt kalter, metallener Dunst auf, der sich als bitterer Geschmack auf Zunge und Gaumen legt. Man muß sehr weit nach oben steigen, um Licht zu erblicken, um über die Stadt hinaus zu sehen. Dort gibt es Felder, ausgedehnte Wiesen, Waldstücke, anmutige Berge. Im Inneren vergißt man das schnell.
Vieles vergißt man in Apolda. Zwischen bewohnten Häusern stehen leere Fabrikhallen. Überreste einer vergangenen Zeit und einer vergangenen Größe. In der Tat war Apolda einstmals eine wohlhabende Stadt. Das Strickerhandwerk hatte sie reich gemacht, und von weither kamen die Menschen, um hier zu leben und zu arbeiten. Und sie fand Erwähnung in den Werken Goethes und Thomas Manns. Auch heute kommen die Menschen noch. Doch sie bleiben stets nur auf Durchreise.
Neben dem Busbahnhof befindet sich das Altersheim. Beide sind Orte, an denen man darauf wartet, nach Hause zu fahren. Überhaupt ist Apolda eine Stadt, die man verläßt. Niemand bleibt hier, dem andere Wege offen stehen. Andere Orte rufen nach denen, die gehen, Orte, die vielleicht nicht schöner oder lebendiger sind, aber größer, lauter und weniger verfallen.
Alles strebt zum Licht, aber hier will die Sonne nicht scheinen. Selbst die Sommer sind nur schwül und heiß. Dann fällt das Atmen schwer zwischen den Häusern. Zu viel Stein hemmt das frische Leben.
Ich weiß nicht, ob Apolda ein guter Ort zum Leben ist, aber zum Sterben ist er so gut, wie jeder andere auch; und die Zeit des Todes kann hier auf angenehmste Weise verbracht werden. Einer der schönsten Orte der Stadt, neben dem Alten Schloß und dem Parkdeckdach des Supermarktes, ist der Friedhof. Er ist schattig und kühl. Hier ragen die Bäume hoch auf in den Himmel, und alles ist von einem dichten Gebüsch umgeben und durchdrungen. Ein verwunschener Garten, wie ihn Kinder sich erträumen, die noch an Märchen glauben. Man schleicht an alten Grabmälern vorbei, die prunkvollen Mausoleen gleichen und vergißt gleichsam, daß draußen die graue Stadt noch immer nicht verschwunden ist. Auf dem Friedhof ist es anders. Die Zeit schweigt, aber die Vögel singen. Eichhörnchen tummeln sich in den Wipfeln der Blutbuchen. Schmetterlinge umwirbeln die Efeuranken. Auf einigen Gräbern brennen Kerzen. Lichter der anderen Welt, der man hier näher zu kommen meint. Ein Schritt weiter, und man ist hinüber gegangen.
Mein Lieblingsort in Apolda aber ist das Oberste Parkdeck eines großen Supermarktes. Dieser befindet sich mitten in der Stadt, am tiefsten Punkt des Tales, über das die Stadt ausgebreitet liegt gleich dem Unterholz eines Gebirgswaldes. (Menschen wie Bäume. Sie scheinen einander zu fliehen, und doch sind sie verbunden, gleichsam gegen ihren Willen. Vielleicht, weil beide – die Bäume und die Menschen – beseelten sind, und ihre Seelen, auch wenn ihre Leiber nach außen streben, zieht es immer wieder zusammen, weil EINE Seele alles Leben umfaßt.) Das Parkdeckdach des Supermarktes ist ein besonderer Ort, beinahe magisch. Man ist erhoben, ja erhaben. Aber man überragt die Stadt nicht. Man schwebt auf einer Höhe mit den Kirchtürmen und den Hügeln, die Apolda umschließen. Man enthebt sich dennoch der chthonischen Kleinstadt, man entflieht in ein Anderes, eine Wolkenstadt. Die Ahnung eines neuen, eines Himmlischen Apolda, das am Jüngsten Tag wie ein Traum über uns kommen mag, erfüllt den, der den Blick vergeblich in die Ferne richtet. Nur der Himmel öffnet sich dem Schauenden. Entrückung, die ein Nebel ist. Man ist nicht fremd. Man fühlt sich als Teil – der Wolken, der Hügel, des Himmels. Man wird selbst ein Nebel und meint, vom nächsten Wind davongetragen zu werden. Und während man in stummer Betrachtung des Augenblicks verweilt, fließt der nicht versiegende Strom derer, die im Supermarkt nur nach Waren suchen und anderes vergessen haben. In Augenblicken wie diesen fühlt man sich beinahe zu Hause, dann ist Heimat mehr als ein Wort, doch alles zerfällt zu Tau auf dem grauen Asphalt der Straßen.
So endet der Tag; und mit flammendem Abendrot wirft sich die Dämmerung über die Stadt. Noch ehe die Sonne untergegangen ist, fallen die Schatten über die Gassen, und hinter den Fenstern entzünden sich Lichter. Aber der Vollmond leuchtet hell. Silberne Strahlen stürzen auf uns nieder, die Sterne leuchten auf, und die Nacht ist wie Seide, ein Hochamt der Stille, ein Gebet um Frieden und Schönheit, und ein Schrei, der grell hinaus fällt vom Grau in das Nicht-Sein der Unendlichkeit.
Vielleicht ist Heimat eine Entscheidung, die jeder für sich allein fällen muß. Und dann muß man bestimmen, ob Heimat ein Ort ist, den man verläßt, an dem man bleibt, oder zu dem man eines Tages zurück kehren will.
Wer in Apolda bleibt, hat nicht immer diese Entscheidung getroffen. Viele bleiben, weil hier der einzige Ort ist, an dem sie sein können. Doch das gilt auch für viele von denen, die gehen.
Mag sein, daß man in den Großstädten der Welt freier atmen kann, doch Einsamkeit ist sich immer gleich, an allen Orten der Welt, ebenso Liebe, Freundschaft und Glück. Es ist nicht wichtig, wo man gerade ist. Gottes Wind weht überall, und auch über Apolda geht er hinweg, Tag für Tag. Gott hat uns nicht verlassen in Apolda, auch die Hoffnung ist uns geblieben, und das ist hier ein großes Wort.

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