Felix Leibrock: „Lutherleben – ein Reformationsroman“
erschienen 2011, Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG,
Petersberg
ISBN: 978-3865686329
Preis: 9,95 Euro
Stellen Sie sich vor, Sie haben einen schweren Unfall. Ihr
Gehirn ist in Mitleidenschaft gezogen worden und Sie fallen ins Koma. Als sie
erwachen, haben Sie gänzlich Ihre Persönlichkeit vergessen. Die Menschen, die
ihnen zuvor noch nahe standen, sind nun Fremde für Sie und Sie sind fest davon
überzeugt, jemand völlig anderes zu sein – z.B. Martin Luther.
Dieses Schicksal widerfährt Wolfgang Trödler, dem
Hausmeister eines Camping-Platzes in der sachsen-anhaltinischen Provinz. Und
mit seiner neugewonnenen Identität schafft Wolle Luther, wie der von dem Unfall
Genesene nun allgemein genannt wird, auch gleich Tatsachen. Er schnappt sich
sein Akkordeon und schlägt sich als Straßenmusiker durchs Land. Mit der Bahn
reißt er von einem Lutherort zum anderen, sorgt auch für Aufsehen in den Medien
und gewinnt bald sogar Jünger. All dies tut er mit einem Ziel: Er will die
Kirche aufs Neue reformieren. Vor allem sucht er nach dem Böhmischen Kelch,
jenen Kelch, mit dem Jan Hus das Abendmahl in beiderlei Gestalt unter seinen
Anhängern verteilte. In Augburg, Worms, Eisenach und Erfurt hofft er, die
Erinnerung daran wiederzufinden, wo er einst diese heilige Reliquie versteckt
haben könnte. Er will den Kelch nicht nur finden, er hofft, daß mit diesem
Kelch im Jahre 2017 ein gemeinsames Abendmahl von Katholiken und Evangelischen
gefeiert werden könne, um die Spaltung dieser beiden christlichen Kirchen zu
überwinden.
Und während Wolle durch die Lande tingelt, macht sich Sabine
Harder, die Wolle als Klinikseelsorgerin während dessen Reha-Kur kennengelernt
hat, ihrerseits auf eine Suche. Sie will die Vergangenheit von Wolfgang Trödler
aufdecken.
Beide werden fündig. Wolle findet den Böhmischen Kelch
vergraben im Garten des Augustinerklosters zu Erfurt.
Pastorin Harder findet einen ehemaligen Studienfreund von
Wolfgang Trödler und erfährt, daß dieser sich schon als junger Mann mit der
Geschichte der Reformation befasst und sogar versucht hat, selbst evangelischer
Pfarrer zu werden.
Nun, das ist das Buch. Sein Inhalt ist schnell erzählt, und
um es zu lesen, braucht auch ein schlichtes Gemüt nur zwei Nachmittage.
Stilistisch ist dem Buch nicht allzu viel abzugewinnen. Wer
gut geschriebene Literatur sucht, wird von „Lutherleben“ gewißlich enttäuscht
sein.
Schon die Hauptfigur, Wolle Luther, bleibt ein Unsympath.
Ein Egomane, der auf sein Charisma einsetzt, Menschen bewußt belügt und
manipuliert, um seine Ziele durchzusetzen, und der seine „Jünger“ wie dumme
Kinder und Untergebene behandelt. So ist er persönlich beleidigt, als eine
Taube das Lutherdenkmal in Worms besudelt. An einer anderen Stelle redet er
einem Architekten ein, er sänge für die Verständigung der Katholiken und
Evangelischen in Kalifornien, während er in Wahrheit nur deshalb auf diesem
Platz Musik macht, um genug Geld zu verdienen, mit dem er seine Hotelrechnung
begleichen kann. Gleichzeitig geht es Wolle immer noch um die Sache der
Kirchen. Und irgendwie scheint ihm gar nichts recht zu sein. Auch wenn er
selbst immer wieder „Eine feste Burg ist unser Gott“ auf dem Akkordeon zum
besten gibt, kreidet er es anderen Pastoren an, wenn sie die „alten Lieder“ die
so „schwierig und fremd“ (S. 39) waren, singen ließen und freut sich, wenn in
einem anderen Gottesdienst neues geistliches Liedgut zum Einsatz kommt. Und er
beklagt, daß die Kirche der Gegenwart zu sehr auf die Vernunft und zu wenig auf
das Gemüt des Menschen ausgerichtet sei.
Gott sei ein Backofen voller Liebe, so läßt der Autor seinen
Helden Wolle räsonieren, während er in der Lutherkirche zu Apolda sitzt und vor
sich hinträumt. Diesem Ort wird ein unangemessen großer Platz in dem schmalen
Band eingeräumt, was sicher der Tatsache zu schulden ist, daß der Verfasser
Pfarrer in Apolda ist. So ist denn auch bei der großen Schlussszene, als Wolle
endlich den Böhmischen Kelch gefunden hat, neben der Klinikseelsorgerin Frau
Harder und ihrem katholischen Kollegen auch noch ein namenloser Mann aus Apolda
zugegen.
Eine der Botschaften des Buches: Wenn bis 2017 nicht die
Interkommunion eingeführt und die Trennung von katholischer und evangelischer
Kirche aufgehoben ist, dann wird beides niemals geschehen. Und diese vereinte
Kirche muß eine Kirche für das Gemüt sein, eine Kirche der Emotionen, eine
zeitgemäße Kirche mit flapsigen Predigten und neuen Liedern. Eine Kirche ganz
nach der Vorstellung von Wolle Luther.
Das Buch erhebt den Anspruch, ein Reformationsroman zu sein.
Auf leichte und „humorvolle“ Art soll Lesern, auch jungen Lesern, die
Geschichte der Reformation nahe gebracht werden.
Das mag man sehen, wie man will. Nach Einschätzung der
Rezensentin hat der Wikipedia-Artikel zu diesem Thema weitaus mehr zu bieten
als Leibrocks Reformationsroman. Und gerade für die Jugend gibt es qualitativ
weitaus bessere Bücher. Beispielsweise das Jugendbuch „Bruder Martinus“ von
Hans Bentzien.
Ein weiteres Negativum des Buches ist sein Zeitbezug. Durch
viele Hinweise auf Ereignisse der Zeitgeschichte kann der Leser des Jahres 2011
das Buch gut zeitlich verorten. Diese Hinweise betreffen unter anderem den
„Skandal“ um Bischof Mixa und den Sieg von Lena Meyer-Landruth im Eurovision
Song Contest. Allerdings erreicht das Buch damit den Eindruck, sich beim Leser
anbiedern zu wollen. Zum anderen wird es zu einem Wegwerfprodukt. Man spürt
beim Lesen: Spätestens im Jahre 2018 wird dieses Buch nicht mehr das Papier
wert sein, auf das es gedruckt ist.
Auch in dem etwas bemühten und eher schlichten Humor schreit
das Buch geradezu danach, dem Leser nicht zu gefallen, aber gefällig zu sein.
Und die Art und Weise, wie der Autor versucht, den Dialekt
einiger Menschen humorvoll zu kolportieren, wirkt leicht überheblich.
Das Buch „Lutherleben“ nimmt für sich in Anspruch, ein
Reformationsroman zu sein. Ein Anspruch, dem es nur schwerlich gerecht wird.
Sicher ist die Frage interessant, wie der Reformator und Theologe in der
heutigen Zeit die Fragen von Kirche, Kirchenspaltung, Interkommunion und
Gesellschaft beantworten und betrachten würde. Nur denke ich, daß die Umsetzung
durch Herrn Pfarrer Leibrock vieles offen läßt und ein gefärbtes, einseitiges
Bild des Doktor Martin Luther zeichnet. Sicher geht ein Autor immer über Eis,
wenn er sich der Herausforderung einer Persönlichkeit von historischer
Bedeutung stellt, wie man an dem vorliegenden Roman sehen kann.
Die Epoche der Reformation war eine der großen Zeiten, und
die Bedeutung Luther für die Geschichte Europas darf nicht unterschätzt werden.
Ohne die Reformation wäre auch die katholische Kirche nicht das, was sie ist.
Das Tridentinum, das 2. Vatikanische Konzil hätte es nie gegeben. Die
Aufklärung, ja, die Säkularisierung von Lehre und Wissenschaft wäre nicht dem
Maße, wie unsere Gesellschaft es in den letzten 400 Jahren erlebt hat, zustande
gekommen.
Leider erfahren wir in Leibrocks Roman nichts von alledem.
Das Buch wurde nur aus einem Grund geschrieben: Als
Werbebroschüre für das Lutherjahr 2017. Es ist ein Buch, das nur seichte
Gemüter unterhält, stilistisch einfallslos und geschrieben ohne Mühe. Ein Buch,
das man getrost im Regal stehen lassen kann.
Nur am Rande soll erwähnt sein, daß Herr Leibrock in der
Bezugnahme auf Wolle Luthers neuropathologischen Status den Begriff „multiple
Persönlichkeitsstörung“ verwendet, einen Begriff, den Psychiatrie und klinische
Psychologie schon lange auf den Müllhaufen ihrer Geschichte geworfen haben. Der
korrekte Terminus lautet „Dissoziative Identitätsstörung“.
Der Artikel erschien zum ersten Mal auf der Seite www.freigeist-weimar.de
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