Wir saßen wieder zusammen bei Kaffee und Kuchen. Immanuel hatte eine Königsberger Marzipantorte gebacken. Er wußte, daß ich diese am liebsten mochte. Er war ein begnadeter Konditor, und er freute sich, wenn man seine Torten lobte.
Ich sagte scherzhaft: „Diese Torte ist die Torte an sich!“
Aber Immanuel runzelte nur die Stirn. Ich war sicher die 132. Person, die diesen Scherz machte. Mein Humor war nicht besonders originell. Das hatten wir miteinander gemein.
Ich wartete darauf, daß er wieder seinen Lieblingswitz erzählen würde, den von Karl dem Zweiten und Graf Rochester.
[Karl der Zweite trifft Graf Rochester, der an einem Tisch sitzt und schreibt. Er fragt ihn, was er da schreibe, und der Graf antwortet: „Ich verfasse soeben die Grabinschrift Eurer Majestät.“ Der König, neugierig wie er nun mal ist, will sofort wissen, was denn der Graf da so über ihn schreibt, und Rochester liest laut vor: „Hier liegt König Karl der Zweite, welcher in seinem Leben viel Kluges gesagt und nie etwas Kluges getan hat.“]
Aber heute unterließ Immanuel das. Er wirkte nachdenklich, sogar ein wenig betrübt. Er goß den Kaffee ein, und ich lobte dessen Geschmack.
Dann saßen wir einander am Tisch gegenüber und schwiegen. Die Torte war köstlich, aber Immanuel rührte sein Stück nicht an. Ich begann mir Sorgen zu machen und fragte ihn, was ihn denn bedrückte.
Er seufzte nur, hob seine schmalen Schultern und sah mich an.
Ich wußte nun, was ihn beschäftigte. Es waren wieder die alten Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich glauben? Was ist der Mensch?
Ich sagte: „Immanuel, du mußt dich entspannen. Du brauchst Abwechslung. Du mußt mal raus aus Königsberg.“
„Ja, vielleicht“, erwiderte er zaghaft. „Aber wo soll ich denn dann hin?“
Ich ächzte müde, und wußte, daß „Wo soll ich hin?“ die fünfte seiner Fragen sein würde. Ich befürchtete, er könne ein Lehrbuch der Geographie verfassen, um diese Frage zu beantworten, deshalb sagte ich rasch: „Eine Fahrt ans Meer. Was hältst du von Danzig?“
Er sah mich fragend an.
Ich versuchte es erneut. „Karlsbad.“ Karlsbad war eine schöne Stadt. Ich hatte dort schon einige sehr erholsame Kuren verbracht. Dort ging man hin, wenn man müde war und etwas auf sich hielt. Für Immanuel war es der falsche Ort, aber ich nannte ihn dennoch und hoffte, ihn so an Karl den Zweiten und Graf Rochester zu erinnern.
Doch Immanuel griff das zugeworfene Seil nicht auf und schüttelte nur den Kopf.
„Nietzsche liebte die Berge“, sagte ich.
„Wer ist Nietzsche?“, fragte Immanuel.
„Ein Freund. Du kennst ihn nicht“, antwortete ich. Mir war noch rechtzeitig eingefallen, daß Nietzsche erst in 60 Jahren geboren werden sollte.
Immanuel stand von seinem Tisch auf und ging hinüber zu seinem Sekretär. Er zog ein Manuskript unter einem Stapel von Papieren hervor und reichte es mir. „Das habe ich geschrieben“; sprach er.
Ich laß den Titel: „Was ist Aufklärung?“
„Wie findest du es?“, fragte er und blickte mich mit erwartungsvoll strahlenden Augen an.
Ich sagte: „Das ist gut. Brillant. Wie alle deine Schriften. Wo nimmst du nur diese Ideen her?“
„Eine Idee ist ein Vernunftbegriff“, sagte Immanuel und lächelte geheimnisvoll.
„Und was ist nun Aufklärung?“, wollte ich wissen.
„Na was schon?“, meinte Immanuel, und setzte, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, hinzu: „Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“
Ja, was denn sonst? Ich war zufrieden, und sicher waren das auch Graf Rochester und Karl der Zweite, obwohl ich niemals erfahren habe, wie der König diese doch nicht gerade schmeichelhafte Grabinschrift aufgenommen hat.
Als ich ging, versprach ich Immanuel, mich unbedingt meines eigenen Verstandes zu bedienen, und er schenkte mir zum Abschied noch ein Glas Senf. "Den gebe ich immer dazu", sagte er und lachte. Sein Humor war nicht originell.
Ein schöner Nachmittag war es gewesen, einer dieser Nachmittage, an die man sich noch lange erinnert, nicht, weil etwas bedeutendes geschehen ist, sondern einfach nur deshalb, weil die Zeit wie ein langsamer, sanfter Strom an uns vorüber geglitten ist.