Sonntag, 17. Mai 2015

DIE WEISHEIT DER SPOTTDROSSEL

Gedanken zu dem Roman "Wer die Nachtigall stört" von Harper Lee
(erschienen als Taschenbuch im Verlag ROROR, 6. Auflage 2010, 528 Seiten,
ISBN 978-3499254185, Preis 10 Euro)

Es gibt diese Autoren, die schreiben und schreiben und kein Ende finden, die einen Roman nach dem anderen veröffentlichen, und nichts kommt dabei heraus, als immer wieder die gleiche Geschichte. Irgendwas mit Liebe, Vampiren oder Fantasy. Literarische Belanglosigkeiten, die zwar ihre Leser finden - für den Augenblick, die abver so schnell auch vergessen werden, wie sie aufgetaucht sind.
Und dann gibt es da die Literatur, die bleibt. Die Jahrzehnte, ja Jahrhunderte überdauern kann. Diese Literatur erzählt Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden, weil sie von der Seele und den Menschen erzählen, von Gut und Böse, Licht und Schatten, Recht und Unrecht und auch von einer Liebe, die höher ist als Fleischlichkeit, von einem Schrecken auch, der aber tiefer geht als funkelnde Vampire. Das sind die Klassiker, die mitunter in unserer so geistfeindlichen Gesellschaft skeptisch beäugt werden. Und es gibt diese Fälle, in denen ein Roman genügt, um seinen Verfasser unsterblich zu machen.
Fahrenheit 415 ist so ein Fall. Hätte Bradbury nichts anderes als dieses Buch geschrieben, wüssten wir dennoch um seinen Namen und würden ihn verehren.
Und so steht es auch um Harper Lee.
Harper Lee, 1926 - wie meine Großmutter, die Queen, die Bachmann und Norma Jean Baker - in Alabama geboren, war ein echtes Südstaatenkind. Ihr Vater war Rechtsanwalt, und ihm setzte sie in ihrem einzigen Roman "Wer die Nachtigall stört" ein literarisches Denkmal, das seines gleichen sucht.
Atticus Finch - der Held ohne Waffen, der nur mit seiner eigenen Rechtschaffenheit auf friedliche Weise kämpf gegen das Böse, die Ungerechtigkeit, die Gewalt und die Ignoranz der Menschen. Er zeigt den Menschen, was Rechtschaffenheit ist, indem er selbst ein rechtschaffenes Leben führt und immer bemüht ist, ethisch das Richtige zu tun. Und das fällt ihm nicht immer leicht, dem allein erziehenden Vater zweier aufgeweckter und lebenshungriger Kinder. Aber seine Erziehungsmethoden sind erfolgreich. Für seine Kinder ist er eine moralische Instanz. Sie wissen, wenn Atticus etwas nicht gut heißt, dann ist es etwas moralisch Falsches, etwas, das man eigentlich nicht tun sollte. Sie tun es zwar dennoch, aber sie lernen, nicht leichtfertig zu sein und ihr eigenes Verhalten kritisch zu hinterfragen.
Atticus ist weise, und deshalb weiß er, dass es besser für seine Kinder ist, wenn er streng ist und auch von ihnen die Einhaltung ethischer Maßstäbe verlangt. Auch wenn er damit den Kindern Härten aufbürdet. Strafen, unter denen sie wirklich leiden müssen. So muss der Junge Jem einen Monat lang mit der kranken, alten Nachbarin Mrs. Dubose verbringen und ihr vorlesen, weil er ihren Vorgarten verwüstet hat. Zwar war diese Verwüstung eine Reaktion auf die Beschimpfungen, die die alte, von Schmerzen geplagte Frau den Kindern immer wieder zurief, aber Atticus hatte Jem aufgeklärt und ihm klare Anweisungen erteilt. Und so musste Jem nicht nur Demut, sondern auch Mitgefühl lernen, und er musste lernen, sich in die Haut eines anderen Menschen zu versetzen, auch wenn er gegen diesen eine Abneigung empfand.
Atticus aber bezeichnete Mrs. Dubose als "die tapferste Frau", die er kannte. Sie war zeit ihres Lebens morphiumsüchtig gewesen, wollte aber nun, da der Tod auf ihrer Schwelle stand, frei von der Sucht aus dem Leben scheiden, weshalb sie ein unglaubliches Martyrium des Entzugs auf sich nahm. Da lernten die Geschwister den Blick hinter die Fassade.
Atticus beherrschte diesen Blick wie kein anderer. Er war ein großherziger und freundlicher Mann, der letzte Gentleman von Alabama.

Als der Roman im Jahre 1960 erschien, war er ein unglaublicher Erfolg, mit dem niemand gerechnet hatte. Aber die Topic traf einen Nerv der Zeit. Nur wenige Jahre vor der Bürgerrechtsbewegung wurden hier Themen wie Rassismus, Gerechtigkeit und Humanismus aufgegriffen. Ein Gesellschaftssystem wurde hinterfragt und abgeklopft auf seine Menschlichkeit hin.
Auf der einen Seite ist es ein Roman wie "Huckleberry Finn". Da sind die drei Kinder Jem, Scout und Dill (eine literarische Hommage an Harper Lees Jugendfreund Truman Capote), die in ihrer Kleinstadt nach Abenteuern und gruseligen Geschichten suchen, die immer wieder das Nachbarhaus umschwirren, in dem Boo Radley lebt, aber es nie verläßt. Eine Welt mit Baumhäusern und Dampfgeistern und Spuk und Geschichten, in die aber zwei Dinge einbrechen: das Erwachsenwerden und der Prozess um Tom Robinson, einen Schwarzen, dem vorgeworfen wird, ein weißes Mädchen vergewaltigt zu haben.
Attcius übernimmt die Verteidigung des Farbigen, wohl wissend, dass es ein Kampf auf verlorenen Posten sein wird. Er weiß, nie wurde ein Farbiger frei gesprochen, wenn sein Gegner vor Gericht ein Weißer war. Er weiß, dass Tom unschuldig ist, aber dennoch verurteilt werden wird. Aber trotzdem nimmt er den Kampf auf. Der einzige, der mutig genug dazu ist. Als sich das rumspricht, werden selbst seine Kinder auf der Straße und in der Schule beleigt und diffamiert. Aber Scout ist ein Tomboy wie aus dem Buche, und ebenso tapfer wie ihr Vater. Sie scheut sich nicht, jeden zu verprügeln, der ihren Vater beleidigt.
Der Prozess erregt viel Aufsehen in der Stadt. Atticus kann nachweisen, dass es Mayella Ewell, das weiße Mädchen, war, welches versuchte, Tom zu verführen, und die damit gegen ein ungeschriebenes, ehernes Gesetz der Südstaaten verstieß. Aber auch in der Betrachtung dieser Figur siegt das Mitgefühl: Mayella zeigt sich als einsames, trauriges, junges Mädchen, das keine Freunde hat und von seinem Vater sexuell missbraucht wird.
Tom wird zwar schuldig gesprochen, aber die Geschworenen haben über eine Stunde lang diskutiert, ehe sie zu ihrem Urteil kamen, und das war ein Erfolg.
Aber es geht um mehr als um Rassismus. Es geht um die Frage, was ein ehrbares, aufrechtes Leben ist. Atticus beantwortet sie durch sein Vorbild. Suchte man in der Literatur nach einer Figur, die ihm gleich käme, würde man bei Jesus ankommen.

55 Jahre alt ist dieser Roman. Lohnt es sich da noch, diesen zu lesen?
Ja.
Und heute brauchen wir Atticus Finch noch viel mehr, als es uns scheinen mag. Denn die Rechtschaffenheit ist aus unserer Gesellschaft verschwunden. Und Eltern lehren ihre Kinder lieber, das zu tun, was einfach ist, als das zu tun, was richtig und gut ist. Heute machen es Eltern ihren Kindern zu leicht. Sie nehmen sie in Schutz, auch wenn das falsch ist, auch wenn ihre Kinder moralisch verwerfliche Dinge getan haben. Aber was bringen sie ihnen damit bei? Das es okay ist, anderen weh zu tun, Hauptsache, man selbst kommt ungeschoren heraus aus alldem. An einer schlechten Note ist der Lehrer schuld, nicht das Kind, das zu faul zum Lernen war. Auf diese Weise erziehen wir eine Generation von unmoralischen, verdorbenen und verzogenen Nichtsnutzen, die nur auf den eigenen Vorteil gehen und nichts wissen von der Welt und den Menschen, die nur eigenes Ego füttern und jede Form von Kritik und Zurechtweisung als Diffamierung betrachten. So erzieht man Narzisten und Soziopathen.Was das für unsere Gesellschaft bedeutet, wird sich erst noch zeigen. Es wird nichts Gutes sein.
Deshalb brauchen wir Atticus Finch.
Deshalb brauchen wir "Wer die Nachtigall stört".

In amerikanischen Schulen war das Buch immer wieder umstritten, weil das Wort "Nigger" darin auftaucht. Deshalb steht es in einigen Staaten sogar auf dem Index. Und ich bin mir sicher, auch der deutsche Buchhandel wird bald mit einer "entschärften" Übersetzung aufwarten können. Aber hier geht es nicht um Pipi und den Südseekönig. Das N-Wort taucht in dem Roman auf, weil es in der Zeit, die geschildert wird, auftaucht. Und wir brauchen es, um zu lernen. Mit dem Ausmerzen böser Worte merzt man noch lange nicht böse Gedanken aus. Im Gegenteil. Dadurch werden die Gedanken nur noch gefährlicher, weil sie sich nicht mehr durch Aussprechen zeigen können. Die bösen Gedanken, für die es keine Worte gibt, werden böse Taten. Aus dem von oben befohlenen Schweigen über Rassismus und Menschenhass werden brennende Ausländerwohnheime.

"Wer die Nachtigall stört" ist ein Buch für unsere Zeit. Es gibt Menschen, für die hat es die gleiche Bedeutung wie die Bibel. Die Rezensentin bekennt, dass sie zu diesen Menschen gehört.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen