Es lebte einmal ein kleiner Spatz. Der war ein munterer, heiterer Geselle. Den ganzen Tag lang flog er auf und nieder, flatterte über Felder und Wiesen und Wälder und genoß seine Tage. Dabei zwitscherte er, daß es nur so eine Freude war. Und wenn er am Boden nach Körnern pickte, hüpfte er auf seinen Beinchen über die Erde.
Eines Tages aber, da saß er still auf einem Baum und beobachtete einen Schwarm Raben, die über ein Feld glitten – ihre langen Flügel weit ausgebreitet. Der kleine Spatz sah ihnen eine Weile zu, dann schüttelte er den Kopf. Das ging doch nicht an, wie diese Raben flogen! So breitete man doch nicht seine Flügel aus. Er hatte das noch nie getan. Nun, seine Flügelchen waren so klein, daß er nicht weit gekommen wäre, wenn er sie ausgebreitet hätte, doch daran dachte er nicht, weil es ihn zu allem Überfluss gar sehr verärgert, wie die Raben mit langen Beinen über den Acker stolzierten.
„Die meinen wohl, die seien was Besseres als ich“, knurrte der Spatz finster und beschloß, etwas dagegen zu unternehmen.
Er flatterte auf. Die Raben hatten seine Neugier geweckt, und wie er so über das Feld flog, fiel ihm auf, daß da noch andere Vögel waren – Meisen, Amseln, Tauben, Eichelhäher und Spechte. Und jeder dieser Vögel hatte seine eigene Art zu fliegen.
Der Spatz war empört. Wie konnten sie es wagen? Sie machten das doch alle völlig falsch!
Er war ein Meister des Fliegens. Er hatte dieses Handwerk von der Pieke auf gelernt – von jenem Tag an, da ihn seine Mutter aus versehen aus dem Nest gestoßen und seine Geschwister herzlich darüber gelacht hatten. Er aber wußte es besser als sie alle. Er wußte, wie man fliegt. Er durfte es nicht dulden, daß die anderen es falsch machten. Aus seiner großen, unfassbaren Güte heraus faßte er sich ein Herz und einen Plan. Er wollte den Vögeln beibringen, wie man richtig fliegt.
Der kleine Spatz verlor keine Zeit. Noch am gleichen Tag ließ er verbreiten, er habe allen Vögeln etwas sehr wichtiges mitzuteilen, und sie sollten doch alle bei Sonnenaufgang zusammenkommen an der großen Linde in der Mitte des Waldes.
Am nächsten Morgen war es dann soweit. Die Vögel – große und kleine – hatten sich bei der alten Linde versammelt. Es fehlten zwar noch einige, doch da der Spatz kaum etwas von den anderen Vögeln wußte, fiel ihm das nicht auf. Doch um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß man hier ergänzen: Mit Spatzen allerdings kannte er sich sehr gut aus.
Die versammelten Vögel nun zwitscherten und trällerten durcheinander. Viele trafen alte Bekannte wieder, und es gab viel zu reden.
Der kleine Spatz, der keine Freunde hatte, setzte sich auf den höchsten Ast und schrie lauthals um Ruhe.
Doch weil er ein gar zu kleiner Spatz war, und sein Stimmchen allzu leise klang, dauerte es eine ganze Weile, bis er sich die nötige Aufmerksamkeit verschafft hatte. Endlich waren alle Vögel still geworden. Sie hatten sich auf den Zweigen der Linde niedergelassen und blickten den kleinen Spatzen erwartungsvoll an. Nur der Kolibri flatterte noch immer fröhlich hin und her.
Der kleine Spatz blähte gewichtig seine Brust und blickte umher. Er genoß es, daß alle ihn ansahen.
„Nun mach schon, Junge“, rief ein ungeduldiger Zeisig. „Zieh hier keine Show ab, sondern sag uns, warum du uns zusammengerufen hast.“
Der kleine Spatz war ein wenig beleidigt von den unverschämten Worten des Zeisigs. Doch er räusperte sich und begann: „Nun, liebe Freunde, ich habe euch zusammengerufen, um euch zu helfen. Mir ist aufgefallen, daß ihr alle ein sehr schwerwiegendes Problem habt, und ich möchte euch nun beistehen, um es zu lösen.“
„Und was für ein Problem soll das denn sein?“, fragte der Zeisig aufmüpfig. Er war ein gestandener Vogel, der sich nur ungern von einem Spatzen etwas sagen ließ.
„Ihr könnt alle nicht fliegen“, sagte der Spatz und bekräftigte seine Aussage mit einem ernsten Kopfnicken.
Nun lachten die Vögel alle laut auf. Sie konnten vor Lachen gar nicht mehr aufhören, und eine vorwitzige Drossel rief: „Junge, du redest einen Stuß, wie es die Welt noch nicht gehört hat.“
Der kleine Spatz verschränkte mürrisch die Flügel vor der Brust. Zornig schwieg er, bis das Lachen verstummt war. Da war es zwar schon gegen Mittag, aber er ließ sich trotzdem nicht von seiner Mission abbringen.
Trotzig sagte er: „Nun, ihr meint vielleicht, daß ihr fliegen könnt, weil es euch gelingt, vom Boden abzuheben. Aber Fliegen kann man euer lächerliches Geflatter nicht nennen.“
„Und du willst uns also zeigen, wie man es richtig macht?“, rief ein alter Rabe.
„Ja, das will ich!“, rief der Spatz entschlossen.
„Na dann“, meinte der Rabe, „dann laß mal sehen, was du so zu bieten hast.“
Das ließ der kleine Spatz sich nicht zweimal sagen. Er flatterte von seinem Zweig auf und flog auf und nieder. „Schaut her!“, rief er dabei. „So macht man das. Genau so! Schaut her, wie ich fliege!“
Da lachten die anderen Vögel abermals, und der alte Rabe rief: „Das nennst du fliegen? Du gaukelst herum wie Spatz.“
Der kleine Spatz machte ein betrübtes Gesicht. Er war zu tiefst getroffen. „Aber ich bin ein Spatz“, klagte er.
Und die Vögel lachten laut.
Da nahm der kleine Spatz all seine Wut zusammen und rief: „Ihr... Ihr wißt doch gar nichts vom Fliegen! Das Handwerk des Fliegens ist euch fremd. Fliegen muß man lernen, und dann muß man üben. Und man muß klein anfangen!“
„Klein anfangen ist gut“, lachte der freche Zeisig. „Klein bist du schon mal. Und was kommt danach?“
Wieder lachten die Vögel.
Doch der kleine Spatz zwang sich, hart zu bleiben. „Ihr macht euch wohl über mich lustig?“
Die Vögel lachten nur.
„Das ist eine Unverschämtheit“, zeterte der Spatz. „Schaut euch doch mal! Der da zum Beispiel!“ Er zeigte mit seinem Schnabel auf den Kolibri. „Der schwirrt da nur so rum. Vor und zurück. Vor und zurück. Ohne Unterlaß. Nennt ihr das vielleicht Fliegen! Hey, du Winzling! Hör endlich auf, hier so herumzuflattern und setzt dich hin!“
Der Kolibri schwirrte hoch auf. „Aber kann nicht aufhören zu flattern!“, rief er erstaunt. „Und ich kann mich auch nicht hinsetzen. Meine Füße sind zu klein. Ich kann die dicken Äste der Linde nicht umfassen. Wenn ich aufhöre zu flattern, fall ich auf den Boden, und dann fressen mich die wilden Tiere!“
„Papperlapapp“, rief der Spatz. „Was ist denn das für ein Unsinn. Sieh, ich kann auch auf den Ästen sitzen, und meine Füße sind fast so klein wie deine.“
„Deine Füße sind ganz anders als die meinen“, erwiderte der Kolibri. „Und das gilt auch für meine Flügel.“
Der Spatz starrte den Kolibri verdutzt an. Er wußte nicht, was er darauf sagen sollte. Schließlich hatte er die Lösung. Stolz platzte es aus ihm heraus: „Dann stimmt eben etwas mit deinen Füßen nicht. Und deine Flügel sind auch nicht in Ordnung. Wenn du richtige Flügel hättest, so wie ich, hättest du auch keine Probleme. Und überhaupt... Schau dir mal dein Gefieder an! Wie kann man nur so herum laufen!“
„Mit meinen Federn und Flügen und Füßen ist alles in Ordnung“, widersprach der Kolibri.
„Ja, red dir das nur ein, du Farbenklecks, du! Du Schwirrflatterer! Du kleinfüßiger Piepmatz!“
„Jetzt reicht es aber!“, fuhr der alte Rabe, der allmählich die Geduld verlor, den kleinen Spatzen an.
„Was denn?“ Der Spatz reckte selbstgefällig sein Köpfchen. „Ich sage doch nur die Wahrheit. Und du, alter Rabenzausel, willst die bloß nicht hören. Du widersprichst mir doch nur, weil du nicht ertragen kannst, daß ich im Recht bin und du im Unrecht bist!“
„Also, das ist ja wohl die Höhe!“, kreischte der Rabe.
Aber der Spatz lachte nur boshaft.
Da ging ein Zittern durch die Luft, wie es nur von dem Schlag gewaltiger Schwingen hervorgebracht wurde. Der Adler war angekommen. Er hatte den ganzen Tag damit verbracht, über den Bergen zu kreisen, wo die Luft so klar und still war, und nun, da langsam der Abend über den Wald fiel, war er hinab zu den anderen Vögeln geglitten. Er setzte sich auf einen starken Zweig in der Krone der Linde und sah sich erstaunt um. „Zu mir drang das Gerücht“, sagte er mit tiefer Stimme, „daß ein Spatz eine Vogelversammlung einberufen habe.“
„So ist es! So ist es!“, zeterte der Spatz. „Und du kommst viel zu spät! Du solltest dich schämen!“
Der Adler sah sich um. Er entdeckte den Spatz erst, als er ihn beinahe mit seinem Schweif vom Baum gestoßen hätte. „Ach, da bist du“, rief er belustigt und mit gespieltem Erstaunen. „Mir war so, als hätte ich eine Stimme gehört.“
Wieder lachten die Vögel.
Der Adler aber blieb ernst. „Kann mir denn einer mal sagen, was hier los ist?“
Der Spatz wollte anfangen zu reden, doch der Eichelhäher fiel ihm ins Wort und begann: „Nun, der Spatz hat uns zusammengerufen. Er meint, wir könnten alle nicht richtig fliegen, und er wollte es uns beibringen.“
„Ist das so?“ Ernst blickte der Adler den Spatzen an.
Der Adler jagte dem kleinen Spatzen eine gehörige Angst ein, und er mußte all seinen Mut zusammennehmen, um ihm zu erwidern: „Ja, so ist es.“
„Dann“, fragte der Adler weiter, „bist du wohl ein Meister im Fliegen?“
„Ja, das bin ich.“ Der kleine Spatz gewann nun Selbstvertrauen.
„Dann laß mal sehen, was du so drauf hast“, sagte der Adler und lehnte sich neugierig zurück.
Die anderen Vögel versuchten mühsam, ihr Lachen zu unterdrücken.
Wie er es schon einmal getan hatte, sprang der Spatz auf und flatterte ein wenig umher.
Der Adler lachte laut auf. „Das nennst du Fliegen?“, rief er. „Du willst ein Meister sein? Schau her!“ Und der Adler breitete seine Schwingen aus. „Ich zeige dir, wie man fliegt.“ Und er erhob sich von seinem Ast und glitt elegant im Kreise über den anderen Vögeln. Reglos flog er dahin. Die Schatten, die seine Schwingen auf das Dach des Waldes warfen, glitten dunkel über das Laubwerk. Dann ließ er sich majestätisch auf der Linde nieder. „So fliegt man“, sagte er. „Wenn du ein Meister bist, Herr Spatz, dann mach es nach.“
Der Spatz schaute sich ratlos um. Mit seinen Flügelchen konnte er doch nicht so wie ein Adler durch die Lüfte gleiten.
„Nun, wir warten“, sagte der Adler.
Der Spatz seufzte. Er hatte keine andere Wahl. Er streckte seine Flügel so weit aus, wie er es vermochte, und dann sprang er von seinem Zweig auf – und fiel wie ein Stein zu Boden.
Die anderen Vögel lachten laut auf.
Der alte Rabe und der Eichelhäher flogen hinab zu dem Spatzen und halfen ihm, sich aus einer Dornenhecke, in die er gefallen war, zu befreien. Er hatte ein paar Kratzer davon getragen und ein paar Federn gelassen, war sonst aber unversehrt.
Sie halfen dem Spatz dabei, wieder seinen Platz in der Linde einzunehmen, und sie mußten ihn stützen, denn der arme kleine Spatz hatte sein Selbstvertrauen verloren. Er blickte betrübt zu Boden und wünschte, sich einfach nur in Luft aufzulösen.
Der Adler indes sah sich um und sagte: „Laßt euch das eine Lehre sein. Ein Spatz kann nicht fliegen wie ein Adler. Ein Rabe singt nicht wie eine Nachtigall. Und ein Falke schwirrt nicht wie ein Kolibri umher. Jeder von uns fliegt auf seine eigene Weise. So war es immer, und so soll es bleiben! Wir alle sind Meister. Und wenn wieder mal ein Spatz kommt, und hier das Kommando an sich reißen will, dann lacht nur über ihn und fliegt davon. Mehr hat er nicht verdient. Ich hoffe allerdings“, und wieder sah er den kleinen Spatzen ernst an, „daß jeder von uns etwas dabei gelernt hat.“
„Ja“, sagte der kleine Spatz kleinlaut und flog davon und kümmerte sich fortan nur noch um seine eigenen Angelegenheiten.
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