Rezension zu Paul Coelhos Roman „Aleph“
von Ilka Lohmann
Coelho, Paul (2012) Aleph, Roman (aus dem Brasilianischen
von Maralde Meyer-Minnemann)
erschienen bei Diogenes Verlag AG, Zürich, Preis 19,90 Euro
ISBN: 978-3-257-06810-8
Hin und wieder erlebt man im Leben Augenblicke der
Stagnation, die plötzlich und unerwartet auftreten, angekündigt durch nichts.
Ob es ein Wechsel des Windes ist oder eine veränderte Hochdrucklage. Vielleicht
hat die Sonne auch nur zu lange oder zu selten geschienen. Man wacht mit einem
Male auf und ist unzufrieden und fragt sich, warum. Dieses Warum – es kommt
daher, weil ja alles in Ordnung ist. Man hat ein gutes, geruhsames Leben, in
Beruf und Partnerschaft läuft es. Gesundheitlich kann man sich auch nicht
beklagen.
Wenn da nur nicht die kleine Stimme wäre, die immer und
immer wieder fragt: Wozu nützt dir das alles? Was hast du aus deinem Leben
gemacht?
So ergeht es dem Ich-Erzähler in Paul Coelhos Roman „Aleph“,
der möglicherweise mit dem Autor identisch ist. Er ist ein international
erfolgreicher Schriftsteller, hat finanziell ausgesorgt, kann sich künstlerisch
und kreativ verwirklichen, führt seit 25 Jahren eine gute Ehe. Und dennoch
macht er sich Sorgen.
Da bekommt er Besuch von J., seinem spirituellen Lehrer, der
zu ihm sagt: „Laß dich auf eine Reise ein.“
Und der Erzähler tut es.
Er begibt sich auf eine weltweite Lesereise, die ihn am Ende
nach Asien führt, die ihn mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach
Wladiwostok bringen soll. Und auf dieser Reise lernt er Hilal kennen. Hilal ist
eine Künstlerin, eine junge Frau Anfang 20, und stammt aus Jekaterinburg, wo
sie im Philharmonischen Orchester die Erste spielt. Auch sie könnte zufrieden
sein, ist es aber nicht. Gleich zu Beginn berichtet sie davon, wie sie als Kind
Opfer eines sexuellen Missbrauches wurde. Der Täter war ein Nachbar. Seitdem
ist sie gefangen in einem Käfig aus Scham und Schuld, der sie hat unfähig
werden lassen, normale Beziehungen einzugehen, unfähig, der Liebe es eines
Mannes und einem Mann mit Liebe zu begegnen. Aber sie fühlt zu dem Erzähler
eine tiefe Verbundenheit. Sie kennt seine Bücher, und sie ist nur nach Moskau
gekommen, um ihn zu treffen.
Sie sagt, sie kenne sein Problem und sie könne ihm helfen.
Sie sei gekommen, ein Feuer für ihn zu entzünden.
Sie will den Erzähler auf seiner Reise nach Wladiwostok
begleiten, und er, überwältigt von ihrer Zielstrebigkeit, ihrem
Durchsetzungsvermögen und ihrer Kraft, stimmt schließlich zu.
Auf dieser Fahrt geschieht etwas. Sie gehen im Zug den Gang
neben den Abteilen entlang, halten zufällig an einer Stelle inne, und da
passiert es: Der Erzähler hat eine Vision. Er sieht die Vergangenheit, das
Zeitalter der Inquisition, und er erlebt einen Inquisitor, der einen Brief
schreibt. Er sieht auch die junge Frau, die ihn an über die Zeitalter hinweg,
durch die Jahrhunderte hindurch, anklagend anschaut.
Es ist die Vision aus einem früheren Leben. Damals haben die
beiden einander schon gekannt, und er hat ihr einen unglaublichen Schmerz
zugefügt.
Das ist das Rätsel, das er lösen muß, damit sie beide, er
und Hilal, Frieden finden.
In einer Kirche von Jekaterinburg bringt er sie dazu, ihm zu
vergeben. Aber erst später er fährt er die volle Tragweite dessen, was
geschehen ist.
Der Erzähler erfährt, daß er an der jungen Frau vor
Jahrhunderten ein Verbrechen begangen hat, das so furchtbar ist, daß viele
Leben vergehen mußten, um es zu sühnen.
Doch beide wagen es.
Und sie gewinnen.
„Aleph“, der neueste Roman des brasilianischen Erfolgsautors
Paul Coelho, ist ein sehr besonderes Buch. Selten werden Texte wie dieser
veröffentlicht. Es ist ein Buch über Magie und Mystik, das sich aber nicht vom
Leben verabschiedet, sondern sich verortet in der Wirklichkeit, ohne dabei die
andere Wirklichkeit zu verleugnen.
Das Aleph ist ein Punkt jenseits von Raum und Zeit, ein Ort
der Kraft, an dem alle Ströme und Mächte zusammen fließen. Es ist der Ort, der
es Hilal und dem Erzähler ermöglicht, über sich hinaus zu treten. Es ist ein
Ort, der jedem von uns begegnen kann. Ein Ort, der uns lehrt, daß wir nicht nur
dieses eine Leben sind, das uns oftmals so klein und unbedeutend dünkt.
Kein Leben ist unbedeutend, das sagt Coelho uns in diesem
Roman, denn jedes Leben ist einzigartig und endlos. Jedes Leben ist so
allumfassend wie das Universum selbst. Und die Weisheit, es zu bestehen und
nicht zu vergeuden, ist für jeden von uns erreichbar, wenn wir es nur wagen,
die Hand danach auszustrecken.
Auch literarisch erfüllt dieser Roman höchste Ansprüche. Die
Sprache ist schlicht und poetisch
zugleich. Und so voll und reich ist der Text an Weisheit und Geschichten,
Gleichnissen und Belehrungen, das man ihn ohne Ende zitieren möchte.
Es ist ein gutes Buch für unsere Zeit, die sachlich geworden
ist, so konkret, die sich so sehr dem Wunderbaren entfremdet hat.
Dieses Buch soll all jenen ans Herz gelegt werden, die
erfüllt sind von der Spirituellen Sehnsucht nach dem Sinn und nach einer
Wirklichkeit, die größer als wir alle ist. Denn in diesem Roman macht Coelho
uns Hoffnung.
Er macht uns Hoffnung darauf, daß wir sehen können und
wissen werden, wenn wir es nur wollen, und wenn es Zeit ist.
Liebe Ilka,
AntwortenLöschenbesser kann dieses einzigartige Werk nicht rezensiert werden!
LG, Edith
Vielen Dank, liebe Edith!
AntwortenLöschenCoelho kann man immer lesen. Er ist gütig und liebevoll zu seinen Lesern. Und seine Texte machen glücklich.
Was mehr kann ein Schriftsteller tun und erreichen?
Alles Liebe,
Ilka
Danke für die Rezension und den guten Einblick in das Buch. Wollte es auch noch lesen und du hast mich hiermit bestätigt. Sehr gut geschrieben. Gruß.
AntwortenLöschenLiebe Noreen! Vielen Dank!
LöschenIch wünsche dir viel Spaß bei der Lektüre, und hoffe, daß die Erwartungen, die meine Rezension bei dir geweckt hat, auch erfüllt werden!
Viele Grüße, Ilka