Montag, 8. Juni 2009

DER SCHRECKEN, DIE NACHT UND DER TOD

Es waren einmal der Schrecken, die Nacht und der Tod, die zogen aus, um das Fürchten zu lehren.
Lange wanderten sie durch leblose Gegenden, bis sie zu einem Dorf kamen, das friedlich auf einer Hügelkuppe lag. Dort waren Menschen auf einem großen Platz unter einer Linde zusammen gekommen und feierten ein großes Fest.

„Mein sollen sie sein!“, rief der Schrecken und fuhr den Menschen in die Glieder. Sofort hielten die Tänzer inne, und die Musik verstummte. Voller Angst sahen die Menschen einander an.
Da sprang ein Knabe auf und rief: „Was ist euch, Freunde? Wovor schreckt ihr zurück? Heute ist doch ein Festtag. Er wäre verloren, würden wir uns fürchten!“
Da begannen die Musikanten von Neuen, zum Tanz aufzuspielen, und auch die Tänzer drehten sich wieder im Reigen.
Der Schrecken saß ihnen noch immer in den Gliedern, doch sie tanzten dennoch weiter. Sie tanzten über ihre Furcht hinweg.
So mußte der Schrecken entfliehen.

Da rief die Nacht: „Mein sollen sie sein!“ Sie warf ihre Schatten aus und deckte das Dorf damit zu.
Zuerst schrieen die Menschen voller Entsetzen auf, doch dann erhob sich eine Frau in ihrer Mitte, die ein kleines Kind auf den Armen trug. Sie rief: „Wenn es finster wird, müssen wir uns ein Feuer entzünden, das die Schatten vertreibt!“
So taten es die Menschen. Sie trugen Holz zusammen und setzten es in Brand. Es wurde wieder licht. Die Menschen tanzten um das Feuer herum, und die Nacht mute fliehen.

Da rief der Tod: „Schrecken und Nacht, ihr seid Vorübergehende. Leicht seid ihr zu überwinden. Wollen wir nun sehen, wie die Menschen mit Endgültigkeit umgehen! Mein werden sie sein!“ Und er warf sich selbst über das Dorf und raffte ein Dutzend Menschen dahin. Männer, Frauen, Kinder und Greise – der Tod fragte nicht, wes Alters und Standes sie waren.
Da hob ein großes Wegklagen an unter den Lebenden. Die Toten waren ihre Eltern, Kinder, Geschwister, Freunde und Geliebte, und sie beweinten sie bitterlich. Unstillbar waren ihre Schmerzen.
Da erhob sich unter ihnen ein Greis, alt und gebrechlich, mit schlohweißem Haar und zitternden Händen. Er rief: „Es ist recht, die Toten zu beweinen! Doch begrabt sie, damit sie Ruhe finden! Und vergesst nicht: Sie werden weiter leben in eurer Erinnerung und in der Liebe, die ihr für sie empfindet!“
Da waren die Menschen getröstet. Sie gruben Gräber für die Toten, legten sie darein und stellten Steine darüber, die ihre Namen trugen.
Dann setzen sie sich zusammen und erzählten Geschichten von denen, die nicht mehr waren. Sie weinten um sie, doch sie lachten aus und feierten das Leben.

Da kamen der Schrecken, die Nacht und der Tod wieder zusammen.
„Hier gibt es nichts für uns“, sagten der Schrecken und die Nacht. „Wir werden weiter ziehen.“ Und sie gingen davon.
Der Tod aber sprach: „Ich werden bei ihnen bleiben. Sie haben uns alle bezwungen. Vielleicht kann ich von ihnen lernen.“

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