Dann will mal, um ein Versprechen zu erfüllen, ein wenig aus meinem Leben erzählen.
Ich werde dabei mal am Anfang beginnen.
Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen - in einem kleinen Dorf in der Nähe von Weimar. Wir lebten dort auf eine Weise zusammen, die man heute kaum noch antrifft. Vier Generationen unter einem Dach: Meine Urgroßmutter, meine Großeltern, mein Onkel - und dann noch meine Schwester und ich.
Wir hatten einen Garten, einen Hühnerhof und Kaninchen. Im Frühjahr hatten wir oftmals auh Enten, die meine Großmutter als Kücken kaufte. Allerdings überlebten die das Jahr nicht. Was im Licht des Lenz noch munter durch das Gras sprang, fand sich im Kerzenschein der Weihnachtszeit wieder auf meinem Bett aus Rotkraut und Klößen. Wie das in Thüringen eben so ist.
Mir standen besonders die Kaninchen nahe. In den Ferien war es meine Aufgabe, früh am Morgen durch die Gegend zu streifen, um Löwenzahn für diese zu sammeln.
Es gab viel Grün um unser Dorf, und man brauchte gar nicht weit laufen, um das Gefühl zu bekommen, ganz allein und menschenverlassen zu sein.
Die früheste Erinnerung aus meiner Kindheit habe ich an meine Urgroßmutter. Ich muß sehr klein gewesen sein - noch ein Säugling. Aber ich erinnere mich daran, wie sie mich nach oben trug und mein Blick durch das Fenster im Treppenhaus hinaus auf die Krone der Birke im Hof fiel.
Zwei weitere einschneidende Erlebnisse meiner Kindheit waren diese: Zum einen der Tod meines Großonkels, den ich miterlebt habe, und zum anderen, als mich meine Mutter auf dem Friedhof vergessen hatte.
Ja, durchaus morbide Erlebnisse, die eine gewisse Düsternis und einen Hang zum Makabren und Dunklen in meinem Gemüt zurückgelassen haben.
Mit Literatur kam ich sehr früh in Berührung, weil mein Großvater, ein ehemaliger Lehrer, auch der Bibliothekar in unserem Dorf war. (Neben vielen anderen Dingen. Ich werde meinem Großvater bestimmt später einen eigenen Text widmen.)
Natürlich laß er meiner Schwester und mir Märchen vor. Er erzählte auch viele, die nicht in den Büchern standen.
Und selbstverständlich sorgte er dafür, daß wir, sobald wir lesen konnten, mit der entsprechenden Lektüre ausgestattet wurden.
Ich zeigte mich ein wenig frühreif. Eines der ersten Bücher, das ich las, war Goethes "Faust". Ich wählte es vor allem aus dem Grund, weil mein Großvater meinte, ich verstünde es noch nicht. Zum Teil hatte er damit recht.
Er hatte unrecht, weil man als Kind den "Faust" sehr wohl verstehen kann.
Er hatte recht, weil man als Kind den "Faust" nur auf sehr einfache Weise verstehen kann.
Allerdings ist es gut, mit dieser Lektüre so früh wie möglich zu beginnen, denn der "Faust" war Goethes Lebenswerk. Es brauchte ein langes Leben, den "Faust" zu schreiben, und ich denke, es braucht auch ein Leben, um dieses Große Werk in all seinen Tiefen zu verstehen.
Das erste, was mir mein Großvater in die Hand drückte, waren die Bücher von Tschingis Aitmatow. "Der Weiße Dampfer", "Djamila", "Der Erste Lehrer" und verschiedene Erzählungen. Später kamen dann "Die Richtstatt" und "Der Tag zieht den Jahrhundertweg" hinzu.
Seitdem ist Aitmatow mein Lieblingsschriftsteller. Bis vor kurzem hatte ich all seine Bücher. (Ein Brand hat einige davon zerstört.)
Ich lese Aitmatow noch immer und immer wieder, denn ich finde in seinen Büchern etwas, das ich anderswo vergeblich suche. Und er erinnert mich daran, daß ich es finden kann.
Das besondere an Aitmatows Schriften ist, daß sie nicht irgendwo in der Welt spielen, sondern in der Heimat des Autors. Es sind Geschichten aus der Steppe, aus Kirgisien, dem einsamen Land - aus der Welt, in der Aitmatow aufwuchs und lebte. Er erzählte nicht nur von der Gegenwart dieser Menschen, sondern auch von ihrer Vergangheit, von ihren Mythen, ihrem Glaube, ihren Traditionen. Und alles ist so reich, so farbenfroh und lebendig.
Und das ist doch etwas, mit dem wir hier in unserem grauen Deutschland so arge Nöte haben. Wir haben verlernt, uns als Volk mit Vergangenheit zu sehen, und wenn wir von unserer Vergangenheit reden, dann nur von den schwarzen oder besser gesagt braunen Jahren zwischen 1933 und 1945.
Wir sollten alle wieder mehr Aitmatow lesen und uns daran erinnern, daß Überlieferung mehr ist als das.
Der Großvater in "Der Weiße Dampfer" lehrt seinen Enkel, den Jungen ohne Namen, wie wichtig es ist, die Namen seiner Väter zu kennen. Denn wer die Namen seiner Väter nicht kennt, weiß auch, daß man sich nicht an ihn erinnern wird. Und das macht die Menschen nachlässig. Das bringt sie dazu, schlimme Dinge zu tun, zu betrügen, zu morgen, zu raffen, denn sie können sich ja sicher sein, daß diese Taten der Nachwelt nicht überliefert werden.
Deshalb ist es wichtig, sich zu erinnern. Und zwar an alles.
Vielleicht wäre es auch ratsam, unseren "Herren" hin und wieder zu sagen: "Man wird sich an euch erinnern."
Gut. Das sollte fürs erste reichen.
Später werde ich weiter erzählen.
Liebe Ilka,
AntwortenLöschenwenn du aus dem *zu morgen* ein zu morden machst, dann ist dieser Text perfekt...lächel...
Ich bin Bibliothekar, und ich teile unbedingt die Liebe zu Aitmatow. Wie froh war ich immer, dass er als Autor für uns damals erhalten blieb (nicht verboten wurde), na und dass es ihn noch heute gibt, das ist ja wohl klar!
Faszinierend seine Sprache, sein Denken, welches er einfließen lässt in seine Prosa...und vor allem, ja, sein Heimatgefühl.
Aber bevor ich weiter schwärme auch wünsche ich dir ein feines Wochenende...
herzlich, Rachel
Liebe Ilka,
AntwortenLöschenmorbide, idyllisch und intelligent - herzlichen Dank für das Teilen deiner Erinnerungen.
Beim Goethe kann ich nur absolut zustimmen. "Faust" sollte man immer wieder lesen. Je reifer man selbst wird, desto spannender wird die Erkundungsreise in und zwischen den wunderschönen Wörtern und Zeilen. Ein lesendes Leben für ein geschriebenes Lebenswerk sozusagen. ;-)
Deine Nicole
Liebe Ilka,
AntwortenLöschenschön, wenn man so behütet im Kreise der Familie aufwachsen kann.
Als wurzellose "Saat der 45er/46er Jahre" nach dem Krieg beneide ich Dich!
Liebe Grüße
tjm.)
Viel zu fühlen in diesem Text, hält mich wach um kurz nach halb vier in der Nacht.
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