Mittwoch, 28. August 2013

WARUM NUR LACHTE ICH

frei nach John Keats's "Why did I laugh..."

Warum nur lachte ich in dieser Nacht?
Kein Gott, kein Dämon kann mir Antwort geben.
Die Hölle schweigt, es schweigt des Himmels Pracht.
Oh Herz! Mein Herz! Warum mußt du erbeben?

Oh Herz! Mein Herz! Wie sind wir so allein!
Oh Dunkelheit! Wie sehr bin ich dein eigen!
Ich seufze schwer in unsterblicher Pein,
und Hölle, Himmel, Herzensgrund - sie schweigen.

Warum ich lachte? Eng ist Lebens Grund,
und nur dem Geist kann höchte Freud gefallen.
Ich wünscht, ich stürb in mitternächtlich Stund
und säh die Welt verdorben und zerfallen.

Oh Vers, oh Ruhm und Schönheit - hohe Sendung.
Doch höher Tod, des Lebenden Vollendung,


Übertragung: Ilka Lohmann



Dienstag, 2. April 2013

"Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern"


Johannisgemeinde Niederroßla
Predigtreihe 2013 - Das Vaterunser

Predigt vom 17. Februar 2013


Heute obliegt es mir, über Sünde und Vergebung zu reden. Heute an diesem besonderen Sonntag, dem ersten Sonntag der Fasten- oder Passionszeit. Es ist dies die Zeit, in der wir uns auf das Osterfest vorbereiten, die traurigste, dunkelste Zeit des Kirchenjahres. In dieser Zeit gedenken wir des Leidens und des Todes Christi. Am Ende werden wir Seine Auferstehung feiern.
Christus ist für unsere Sünden am Kreuz gestorben. Die Auferstehung ist das Zeichen der Vergebung, das Zeichen von Gottes Gnade und von Gottes Liebe zu uns – seinen Kindern.

Vergib uns unsere Schuld, so wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
Diese Zeile aus dem Vaterunser gehört zum täglichen Gebet aller Christen. In jedem Gottesdienst werden diese Worte gesprochen. Christus selbst hat uns gelehrt, so zu beten. Und man kann meiner bescheidenen Meinung nach Jesu Worte bei der Einsetzung des Vaterunsers so deuten, daß er meinte, dieses Gebet sei genug, es umfasse alles, worum man Gott bitten kann. Und wie wichtig gerade der Punkt der Vergebung ist, zeigt sich daran, Jesus diesen noch einmal aufgreift, wenn er sagt: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Vergehung vergebt, so wird euer himmlischer Vater euch vergeben; wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euer Vater eure Vergehungen auch nicht vergeben.“ (Matt. 6, 14/15)

Und es kommt nicht von ungefähr, daß Jesus gerade hier so eine starke Betonung zeigt.
Wenn man sich auf die Suche macht, findet man sehr viele Zitate zum Thema Vergebung.
·        Vergib deinen Feinden, aber vergiß nicht ihre Namen. John F. Kennedy
·  Wenn man jemandem alles verziehen hat, ist man mit ihm fertig. - Sigmund Freud
·    Es gibt Augenblicke, in denen man nicht nur sehen, sondern ein Auge zudrücken muß. - Benjamin Franklin
·  Der Schwache kann nicht verzeihen, Verzeihung ist eine Eigenschaft des Starken – Mahatma Gandhi
·        Was unsere Seele am schnellsten und schlimmsten abnützt, das ist: Verzeihen ohne zu vergessen. - Arthur Schnitzler
·     Wer seinen Nächsten verurteilt, kann irren. Wer ihm verzeiht, der irrt nie. - Karl Heinrich Waggerl
· In gewisser Weise bedeutet Vergebung einfach, daß wir beschließen, den Hass in unserem Inneren nicht länger mitzuschleppen, weil wir begriffen haben, daß er uns vergiftet. - Jack Kerouac.

Manch einer mag sich fragen: Warum soll ich jeden Tag darum beten, daß mir meine Schuld vergeben wird? Soviel kann doch keiner sündigen?
Aber ist das so einfach? Der amerikanische Psychologe John Frazier sorgt mit der Aussage für Aufsehen, wir würden im Durchschnitt 200mal am Tag lügen. Sicher, das ist inzwischen widerlegt worden. Aber vielen von uns fällt es schwer, immer bei der Wahrheit zu bleiben.
Und dann sind da noch die vielen kleinen und großen alltäglichen Zwischenfälle, die uns ärgern oder sogar das Leben vergällen können. Und hin und wieder muß sich da jeder auch mal an seine eigene Nase packen. Keiner ist frei von Schuld und Sünde.
Wer davon überzeugt ist, immer alles richtig zu machen und alles besser zu wissen und dessen Problem immer die anderen sind, der sollte sich unbedingt an einen Psychologen seines Vertrauens wenden, denn es steht die Möglichkeit einer psychischen Störung.

Mehrere Begriffe sind mit dem ganzen Thema verbunden, die eventuell der Klärung bedürfen:
·        Sünde
·        Schuld
·        Reue
·        Buße
·        Vergeben und Verzeihen.
Sünde ist dabei sicher der am schwersten zu erfassende Begriff. Sünde. Es ist altmodisch geworden, von Sünde zu reden. Die meisten Sünden, die der Mitteleuropäer des 21. Jahrhunderts sich noch eingesteht, betreffen die Ernährung und die Umwelt. Gemeinhin herrscht die Vorstellung, gerade die katholische Kirche wäre eine Expertin dieses Themas, doch schlägt man im Katechismus nach, findet man da auch nur Unklarheiten. Da heißt es, eine Sünde sei ein Ungehorsam gegen Gott, eine Handlung wider die Vernunft. Eine Sünde ist es, sich willentlich den Gesetzen und dem Willen Gottes entgegen zu stellen. Dann wird unterschieden zwischen läßlichen Sünden, zum Himmel schreienden Sünden und schweren Sünden. Von besonderer Schwere sind die Sünden gegen den Heiligen Geist. All das weiß der Katechismus. Aber konkrete Handlungsanweisungen fehlen.
Wann also begehe ich eine Sünde? Ich würde es so fassen: Immer dann, wenn ich aus der Liebe Gottes und den Gesetzen von Sitte und Anstand heraustrete.
Und ich bin mir sicher, daß wir viel mehr Sünden begehen, als wir bemerken. Andere sehen es vielleicht, wenn wir uns an der einen oder anderen Stelle gegen unseren Nächsten versündigt haben. Wenn wir andere verleumden und ihnen Böses tun, wenn wir unseren negativen Seiten erlauben, die Oberhand zu ergreifen.
Immer wieder trifft man auf Menschen, die versündigen sich an ihrem Nächsten. Und dennoch meinen sie, sie seien im Recht. Sie machen anderen Menschen, die sie nicht mögen, das Leben schwer, und denken, sie hätten alles Recht dazu, dies zu tun, weil sie juristisch nicht haftbar gemacht werden können. Und es ist eine Tragik unserer Zeit, daß Sitte und Anstand und Ehrenhaftigkeit nichts mehr gelten und auch nicht eingeklagt werden können. Solche Menschen fühlen sich durchaus wohl in ihrer Haut. Sie liegen nachts auf weichen Kissen und schlafen den Schlaf der Gerechten, während die, die unter ihnen zu leiden haben, wach liegen und sich sorgen.
Dennoch haben diese Menschen Schuld auf sich geladen. Schuld zum empfinden, setzt allerdings voraus, ein Gewissen zu haben. Ein wirkliches Gewissen. Es setzt voraus, daß man in der Lage ist, seine eigenen Handlungen zu reflektieren, sich selbst zu reflektieren, und letztlich muß man dazu in der Lage sein, sich selbst die Frage zu stellen: Habe ich hier recht gehandelt? Welche Folgen hat mein Handeln? Welche Folgen hat es, wenn ich dieses oder jenes tue oder unterlasse. Letztlich geht es bis auf die Ebene unserer Gedanken, Träume und Vorstellungen. Und dabei muß ich mir doch nur diese eine Frage stellen: Was für ein Mensch will ich sein? Und dann muß ich mich einfach nur dem entsprechend verhalten.
Dann sind da noch jene, die nicht in der Lage dazu sind, Schuld zu empfinden, die immer alles auf die anderen schieben müssen und den anderen sogar die Schuld oder Verantwortung für ihre eigenen Missetaten und für ihr eigenes unrechtes Verhalten zusprechen.
Dann sind da noch jene, die anderen eine Schuld und ein Fehlverhalten unterstellen, daß diese gar nicht begangen haben.
Schuld ist ein Gefühl, das uns abtrennt von unseren Nächsten. Durch Schuld erniedrigen wir uns vor denen, an denen wir uns versündigt haben. Schuld setzt uns die Lage, Abbitte leisten zu müssen. Wir liefern uns aus durch die Schuld. Wir sind die Täter und liefern uns der Gnade unserer Opfer aus. Aber es nicht die Schuld, die uns diese Lage bringt, es die die Sünde, die wir gegangen haben, und deretwegen nun die Schuld an unserem Gewissen nagt.
Aber das ist noch mehr. Das Eingestehen, eine Schuld zu tragen, nennt man Reue. Reue bedeutet, daß wir erkennen, wir haben einen Fehler gemacht. Wir haben uns nicht richtig verhalten. Wir haben anderen Menschen Schaden oder sogar schweres Leid zugefügt.
Reue ist ein schreckliches Gefühl. Ich bin mir sicher, jeder von uns trägt etwas in sich, daß er sehr bereut, und am schwersten ist die Reue, für die wir keine Buße mehr tun können.
Buße, das ist auch die Strafe, die wir für eine Sünde verdienen. Eine Strafe, die der Schuld angemessen sein muß. Aber auch das ist wieder eine schwer zu beantwortende Sprache. Es gibt einfache Antworten, wie beispielsweise den Bußgeldkatalog. Aber auch da kann man die Frage stellen: Wie angemessen sind die Summen, die dort verlangt werden? Wer legt das fest? Die Beträge werden ja in schöner Regelmäßigkeit erhöht. Kann es daran liegen, daß es wirklich immer verwerflicher wird, ohne Parkscheibe zu parken?

Aber all das sind Randthemen, wenn es um die Vergebung geht. Vergeben werden muß eine Schuld. Und wie? Christus gibt die Antwort: Bedingungslos. Wir müssen vergeben, damit uns vergeben wird.
An zahlreichen Stellen aus der Bibel ist das zu belegen. Man denke an das Gleichnis des ungehorsamen Knechtes, an die Geschichte von dem verlorenen Sohn, an die verhinderte Steinigung der Ehebrecherin.
Es heißt in der Bibel: „Richte nicht, auf das du nicht gerichtet werdest, denn mit dem Maß, mit dem du mißt, sollst du gemessen werden.“
Oder die goldene Regel: „Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, tut ihnen ebenso.“
Ertragt einander und vergebt euch gegenseitig, wenn einer eine Klage gegen den anderen hat; wie auch der Herr euch vergeben hat, so auch ihr“, heißt es im Brief an die Kolosser.
Ihr seht den Splitter im Auge eures Nächsten, aber nicht den Balken im eigenen.“
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Widersteht dem Bösen, sondern wenn jemand doch auf deine rechte Backe schlagen wird, dem biete auch die andere dar, und dem., der mit dir vor Gericht gehen und dein Untergewand nehmen will, dem lass auch den Mantel! Und wenn jemand dich zwingen wird, eine Meile zu gehen, mit dem geh zwei.“
Als Petrus Christus fragte, wie oft man seinem Bruder vergeben soll, antwortete dieser: „Siebzig mal sieben mal.“
Und den Menschen gab er den Rat: Ehe sie im Tempel ihre Gebete verrichtete und ihre Opfer darbrachten, sollten sie zuerst den Streit mit ihrem Nächsten schlichten und sich versöhnen.
Sehr eindrücklich ist die Geschichte von dem Mann, dem der König eine hohe Schuld erließ. Als der Mann dann seinerseits eine weit geringere Schuld von einem seiner Schuldiger einforderte, strafte ihn der König, indem er seine eigene Forderung an den Mann erneuerte, und dieser kam in den Schuldturm.
Christus, Gott will, daß wir einander vergeben. Die Sünde ist der Makel an der Schöpfung, der durch die Vergebung getilgt. Und sie beginnt bei uns. Das ist Gottes Gerechtigkeit. Wir bekommen das, was wir selbst anderen geben. Wenn wir vergeben, werden wir Gottes Vergebung teilhaftig sein. Da, wo wir Gnade erweisen, werden wir Gnade erhalten. Aber auch unsere Engherzigkeit, unsere Rachsucht, unser böser Wille werden zu uns zurück kehren.
Die Sünde macht uns unfrei. Die Sünde führt zu Lastern, die uns binden, die unserem freien Willen entgegen stehen. Wir sind da frei, wo wir Gottes Willen tun. Und Gott will, daß wir einander in Liebe zur Seite stehen.
Jesus Christus spricht: „Ich gebe euch ein neues Gebot: Daß ihr einander lieben sollt.“

Vergebung. In der katholischen Kirche ist das eine sehr greifbare, gegenwärtig erfahrbare Angelegenheit durch das Sakrament der Beichte, die übrigens auch die evangelische Kirche kennt, nur nicht in Form eines Sakraments. Und sie wird es da nicht so exzessiv ausgeführt.
Über die Beichte sind viele Gerüchte unterwegs. Am beliebtesten ist die Geschichte, daß durch die Beichte selbst ein Mensch, der einen Mord begangen hat, von dieser Sünde frei gesprochen werden könne, ohne Sühne leisten zu müssen. Ich erinnere mich, daß dieses Thema auch während meines Konvertitenunterrichts, den ich bei dem verstorbenen Pfarrer Adolf Rudolf in Apolda absolvierte, aufkam. Pfarrer Rudolf erklärte mir damals folgendes: Ja, ein Mörder kann durch die Beichte Vergebung und Absolution seiner Sünde erhalten, aber erst, nachdem er verurteilt wurde und seine Strafe abgesessen hat.
Übrigens: Der Strafvollzug ist ein gutes Beispiel dafür, daß die Gerechtigkeit Gottes anders, gerechter und gnädiger ist als die der Menschen. Ein Mensch, der einmal wegen eines Verbrechens verurteilt wird, trägt dies als Makel immer mit sich. Er gilt als vorbestraft. Die Tat bleibt verankert in seinem Führungszeugnis und ist dort für beinahe jedermann einsehbar. Und das noch Jahre, nachdem die Strafe für das begangene Verbrechen durchstanden wurde.
Und wie gehen wir selbst mit verurteilten Verbrechern um? Natürlich sind sie in unseren Augen stigmatisiert. Wer schon einmal im Gefängnis saß, ist übel beleumundet. Solche Menschen haben Probleme, eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz zu finden, was am Ende in einen Teufelskreis mündet.
Sicher ist Vorsicht angemahnt in solchen Fällen.
Ich sage nur: Gott geht anders mit uns um. Wenn wir gefehlt und gesündigt haben, vergibt er unsere Schuld und tilgt sie gänzlich.
Aber um noch einmal auf die Beichte zurück zu kommen: Ich erinnere mich sehr gut an meine Erstbeichte. Ich war schrecklich aufgeregt, weil ich nicht wußte, was ich sagen sollte. Ich habe versucht, mit anderen darüber zu sprechen, aber das war schwer. Keiner wollte über die Beichte reden. Ich hatte mir dann eine Liste gemacht. Als ich dann aber meinem Beichtvater gegenüber saß, wollte mir davon nichts mehr einfallen. Alles war in meiner Erinnerung wie ausgelöscht. Aber Pfarrer Rudolph gelang es, mich zu beruhigen und den Druck herauszunehmen, und so wurde diese Beichte zu einer sehr schönen Erfahrung. Ich hatte wirklich das Gefühl, von der Gnade Gottes berührt worden zu sein. Und als ich ging, war mir leichter ums Herz, und ich fühlte mich freier.
Ich nahm aber auch eine Gefahr war, nämlich die, daß das Bewußtsein der eigen Schuld zu einem Zwang, zu einem neurotischen Verhalten werden kann.
Die Unsicherheit im Umgang mit diesem Sakrament hat mich nie verlassen, aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Beichte, auch wenn sie von vielen mitunter kritisch gesehen wird, mit einem verständnisvollen und großherzigen Beichtvater ein sehr schönes Erlebnis sein kann.

Heute ist der erste Sonntag der Fasten- oder Passionszeit. In dieser Zeit, den vierzig Tagen vor Ostern, gedenken wir dessen, was Christus litt für uns am Kreuz. Ich wir sollten auch bedenken, warum er litt und was dann geschah. Er litt, er starb am Kreuz, und er ist auferstanden von den Toten.

Eine Frage möchte ich hier stellen. Straft uns Gott für unsere Sünden? Straft uns Gott, wenn wir anderen die nötige Vergebung versagen?
Nun, wir strafen uns selbst durch Unversöhnlichkeit. Wie so eine Strafe aussieht, habe ich selbst miterlebt. Ich hatte einen Großvater, den ich nicht kannte. Er war der leibliche Vater meines Vaters. Er war in seinen aktiven Jahren Direktor an einer großen Schule in Apolda und deshalb vielen Menschen ein Begriff. Leute, die mich neu kennenlernten, fragten mich – und manche tun es noch immer – ob ich die Enkelin des Lehrers Lohmann sei. Ich sage dann einfach: „Ja, das bin ich.“ Aber ich bin diesem Mann niemals begegnet.
Er und meine Großmutter hatten heiraten müssen, weil sie schwanger geworden war. Zwanzig Jahre lang ging das trotzdem einigermaßen gut. Aber dann verliebte er sich in die Frau seines Schwagers, des Bruders meiner Großmutter. Und sie verliebte sich in ihn. Bald hatten die beiden ihre Ehepartner verlassen und lebten zusammen. Sie blieben zusammen bis zu seinem Tod vor vier Jahren. Aber durch diese Geschichte zerbrach ein Teil meiner Familie – lange, bevor ich geboren wurde. Mein Großvater nahm es meinem Vater und dessen Schwester übel, daß sie die Partei ihrer Mutter ergriffen hatten und wollte von da an nichts mehr von ihnen wissen. Von jener Zeit an sprach er mit keinem von ihnen mehr ein Wort. Allen Familienfesten und den in unserer Familie üblichen Familientreffen blieb er fern, obwohl er immer wieder eingeladen wurde. Er lernte meine Schwester und mich niemals kennen. Ich glaube auch nicht, daß er meine Mutter kannte. Einmal war in der Zeitung ein Bild, das mir mein Großvater mütterlicherseits zeigte. Er war ebenfalls Lehrer. Die beiden kannten sich, wenn sie auch an verschiedenen Schulen arbeiteten.
Aber das war die Strafe. Wegen seiner Unversöhnlichkeit nahm mein Großvater die Isolation von seiner gesamten Familie und Sippe in Kauf. Er nahm in Kauf, niemals ein Großvater zu sein, niemals seine Enkel oder die Ehepartner seiner Kinder kennengelernt zu haben. Und er nahm in Kauf, daß keiner von seinen leiblichen Angehörigen an seinem Sarg stand, als er beigesetzt wurde.

Wir glauben an die Vergebung der Schuld. Wir bekennen dies jedes Mal, wenn wir das Glaubensbekenntnis aussprechen. Und im gleichen Gebet geben wir zu verstehen, daß wir Gott auch als Richter betrachten.
Gebete automatisieren sich so leicht. Ich selbst ertappe mich oft dabei, daß ich während des Credo oder des Paternoster ganz wo anders bin mit meinen Gedanken. Aber vielleicht ist es hilfreich, wenn wir uns hin und wieder vor Augen halten und bewusst machen, was wir da eigentlich sagen, um zur Einsicht zu gelangen.
Denn oftmals ist es der Mangel an Einsicht der eigenen Schuld, der eigenen Verfehlung, der uns abhält, zu bereuen und anderen zu vergeben.
Ich hatte letzte Woche ein Gespräch mit einem Jungen, dreizehn Jahre alt. Er beklagte sich darüber, daß er bestraft worden war, weil er einen Jungen, der ihm eine Mütze weggenommen hatte, beinahe unter einen vorbeifahrenden LKW gestoßen hatte. Ihm war klar, daß es nicht richtig war, anderen die Mütze weg zu nehmen. Ihm war ein Unrecht widerfahren, aber weil er auf die falsche Weise, nämlich wiederum durch ein Unrecht, nach Vergeltung suchte, blieb ihm die Wertschätzung des eigenen Verlustes verwehrt.
In der Mathematik wird aus Minus mal Minus ein Plus, aber nicht in den Fragen der Ethik.

Jetzt wird es Zeit, zu einem Schluß zu kommen. Das ist mitunter das schwierigste – ein Ende finden, vor allem bei so einem Thema, über das so viel zu sagen wäre. Und ich bin mir bewusst, daß ich in meiner Predigt hier nur an der Oberfläche kratzen kann.
Lassen Sie mich deshalb einen ungewöhnlichen Weg gehen.
Seit meiner Kindheit bin ich ein großer Fan von Kriminalromanen. Und eine besondere Stellung nehmen die Romane und Erzählungen von Lady Agatha Christi ein, die sich um den belgischen Detektiven Hercule Poirot drehen. Der eine oder andere von ihnen kennt vielleicht die wunderbaren Filme mit Sir Peter Ustinov oder David Suchet.
Poirot ermittelt oft in einem gehobenen Milieu, im Umkreis der Reichen, Schönen und Begüterten. Und am Ende inszeniert er die Aufklärung der Fälle auf seine besondere und etwas theatralische Weise.
Sagen wir, das Mordopfer war ein Industrieller mit großem Vermögen und einer umfangreichen Familie. Poirot, nachdem seine kleinen grauen Zellen den Mörder entlarvt haben, ruft nun alle Verdächtigen zusammen: Ehepartner, Kinder, Nichten, Neffen, Kollegen, Freunde, Liebschaften und Kammerdiener. Und dann, ehe der den Namen des wirklichen Täters nennt, geht er von einem zum anderen. Jedem hält er vor, daß er oder sie Motiv und Gelegenheit gehabt habe, um den Mord zu begehen. Am Ende ist keiner unschuldig. Der Mörder ist nicht allein der Verruchte. Sie alle sind es. Er ist ihnen nur bei der finsteren Tat zuvor gekommen.
So bleibt bei Poirot keiner unverschont.
„Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Das könnte auch Poirot, von Lady Agatha immer wieder als gläubiger Katholik porträtiert, zu dem Kreis seiner Verdächtigen sagen. Und er sagt es damit auch uns, den Lesern.

Wir alle sind Sünder, ob wir uns nun dessen bewusst sind oder nicht. Deshalb haben wir die Vergebung nötig. Wir brauchen sie, um im Frieden mit einander, mit uns selbst und mit Gott zu leben.
Vielleicht hilft uns dabei der Gedanke, daß wir vor Gott bereits gerechtfertigt sind. Durch die Taufe sind wir seine Kinder geworden. Seine Türen, seine Arme, sein Herz stehen uns allezeit offen. Es liegt nun an uns, an unserer Entscheidung, ob wir hindurchgehen wollen oder nicht.
So groß ist Gottes Liebe zu uns, daß er seinen eigenen Sohn hingab, um uns zu erretten. Das Opfer, das er Abraham am Ende doch nicht abverlangte, war er bereit, für uns zu geben.
Christus, das wahre Osterlamm. Das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt und tilgt.
Auf das Agnus Die folgt in der Katholischen Messliturgie ein kleines Gebet, daß auch die evangelische Kirche kennt, nur leider nicht so oft ausspricht:
„Herr, ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter mein Dach. Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Mich bewegt es immer sehr, diese Worte zu sprechen. Es gibt mir Kraft. Es gibt mir Kraft, zu wissen, zu spüren, daß Gott nichts unmöglich ist, daß keine Schuld so groß sein kann, als das Er sie tilgen könnte.

Lassen Sie mich zum Ende noch eine kurze Geschichte aus dem Sufismus erzählen.

Ibn Asakir überliefert in seinem Ta’rih nach einem Gfährten von as-Sibli, daß er ihn nach seinem Tod im Schlaf sah. Er fragte ihn: „Was hat Gott mit dir gemacht?“
Da antwortete er: „Er hat mich vor sich hingestellt und gesagt: Abu Bakr! Weißt du, weswegen ich dir vergebe?
Für mein redliches Handeln?
„Nein!“
Für meine Ausschließlichkeit in meinem Gottesknechtsein?
„Nein!“
Für meine Wallfahrten, mein Fasten und mein Gebet?
„Nein! Nicht dafür habe ich dir vergeben.“
Für meinen Auszug zu den Redlichen und meine dauernden Reisen auf der Suche nach dem Wissen!?
„Nein!“
O Herr! Das sind doch die rettenden Handlungen, auf die ich über alles andere gesetzt habe. Ich glaube, du habest mir ihretwegen vergeben und dich meiner erbarmt.
Er aber sagte: „Wegen alldem habe ich dir nicht vergeben.“
Mein Gott! Wofür dann?
„Erinnerst du dich, wie durch die Gassen von Baghdad gegangen bist und eine kleine Katze gefunden hast, die von Kälte ganz schwach war und die sich von Mauer zu Mauer schlich, weil es so kalt war und so viel Schnee lag? Du hast sie aus Erbarmen genommen und sie in das Fell gesteckt, das du trugst, um sie vor dem Kälteschmerz zu schützen.
Ich bejahte.
Da sagte er: „Weil du dich jener Katze erbarmt hast, habe ich mich deiner erbarmt.“



Und der Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

Freitag, 23. November 2012

PROFESSOR FÜNDERICH

Anmerkung:
Hin und wieder suche ich meine Festplatte durch, und dann stoße ich gelegentlich auf einen Text wie diesen hier.
Ich denke, er entstand irgendwann im Jahre 2010. Es ging, meine ich mich zu erinnern, dabei nur darum, etwas zu schreiben, das mich aufheiterte.
Ja, der Text legt Zeugnis ab von einem doch recht fragwürdigen Humor.



Der Herr Professor Füderich,
der war ein arger Wüterich.
Der steckte Fräulein Heidelgund
ein Stück Plutonium in den Mund.
Und seinen Bruder Adular,
den fraß er auf mit Haut und Haar.
Und seine Katze Isabelle
würgt’ er auf seines Hauses Schwelle.
Hund Bertram hat auch nichts zu lachen,
der muß täglich den Affen machen.
Auch Oberförster Hansemann
hat er ein schweres Leid getan,
als er ihn wohl im Mittagsschlaf
mit einem Stein am Schädel traf.
Dem Bürgermeister Brümmelschwein,
dem fraß er an das rechte Bein,
und Oberschwester Lilofee
fehlt seinetwegen auch ein Zeh.
Nur seine Schwester blieb verschont,
weil sie seit Jahr’n im Westen wohnt.

Donnerstag, 25. Oktober 2012

DENN DU KENNST DEN TAG

von Ilka Lohmann
Rezension zu: „ENDTAG: Wenn jeder weiß, wann er stirbt – Ein Szenario“ von Ivo W. Greiter
erschienen bei TYROLIA-VERLAG Innsbruck, Wien, 2012
ISBN: 978-3-7022-3204-7, Preis 17,95 Euro


„Der Tod ist gewiss, ungewiss seine Stunde“, weiß der Volksmund zu berichten. Der Tod ist es, der dem Leben Sinn gibt. Weil aber keiner von uns weiß, wann es soweit ist, hängt er wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen.

Wie wäre es nun, wenn wir wüßten, WANN wir sterben? Würde das dem Tod seinen Schrecken nehmen?
Ja, meint Ivo W. Greiter in seinem Buch – er nennt es ein Szenario - „Endtag“. Es beginnt ein wenig wie Science Fiction. Die Wissenschaft hat herausgefunden, wie man – mittels eines einfachen Bluttests – die Lebensspanne bestimmen kann, die einem Menschen zugemessen ist. Was zunächst eine Option ist, wird zunächst in Österreich – der Autor ist Österreicher – und später in der ganzen Europäischen Union Gesetz. Obligatorisch wird nun bei jedem Neugeborenen nach der Geburt – intra-uterin ist dies nicht möglich – dessen Lebenskapazität bestimmt. Mit weitreichenden Folgen für die Gesellschaft.
Nun beginnt Greiter zu mutmaßen. In vielen Episoden berichtet er von Menschen, die aus dem Leben das Beste machte, die ihre Angelegen rechtzeitig regeln oder noch mal kurz vor Schluß ein Verbrechen begehen. Lange und kurze Lebensspannen prallen auf einander. Menschen, die nur 30 werden, finden keine Partner mehr. Alle Fragen werden gestellt: Wie sieht es aus mit der Altersversorgung? Was ist mit der beruflichen Beförderung von Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben? Wie sieht es aus mit Kandidaten für politische Ämter? ….

Der Autor vermittelt den Eindruck, als würde erst die Gewißheit der Todesstunde das Leben wirklich bedeutsam machen. Er will uns sagen, wir – die wir nicht wissen, wann wir sterben werden – lebten in den Tag hinein, würden unsere Zeit nicht nutzen, würden unser Leben vergeuden, weil wir nur daran denken würden, daß wir noch unendlich viel Zeit hätten und vielleicht unsterblich wären.
Die fiktiven Menschen in seinem Buch aber sind ganz anders. Sie sind abgeklärt, zufrieden. Sie finden sich auch mit einem kurzen Leben ab und sterben friedlich und beglückt im Kreis ihrer Freunde und ihrer Familie.

Die Idee hinter diesem Buch mag sehr interessant sein, aber das, was Herr Greiter daraus gemacht hat, ist sehr fragwürdig.
Nicht die Gewißheit der Todesstunde macht das Leben wertvoll, sondern ihre Ungewißheit. Es ist das Gefühl, daß wir im Augenblick unsterblich sind, daß unserem Leben immer wieder diese Tiefe gibt, die es haben sollte. Die Tiefe ist es, auf des ankommt.
Greiter ist wohlmeinend. Doch da endet es leider auch bereits.
Nicht die Ungewißheit ist es, die den Tod schrecklich macht, sondern seine Unvermeidlichkeit. Natürlich kann es das Denken verändern, wenn man genau um seine Todesstunde weiß. Aber kann man das?
Greiter legt die Tode durch Unfälle, Mord und Suizide auf 3% aller Todesfälle, und ich glaube, da liegt ein Grunddenkfehler seines Ansatzes. Man muß nur an die Zahl der Verkehrstoten denken. Man muß daran denken, daß Suizid die Todesursache Nummer 1 bei Adoleszenten ist. Und was ist mit den Menschen, die beispielsweise durch Anorexia Nervosa umkommen und verhungern? Ohne Energiezufuhr kann kein Körper leben.
Außerdem sind alle Menschen in seinen Szenarien intelligent, gebildet und gehören der gehobenen Mittelschicht an, die es sich leisten kann, ihre letzten Lebensmonate an der Riviera zu verbringen oder auf einer Kreuzfahrt durch die Südsee zu verscheiden.
Manche Beispiele offenbaren auch eine fragwürdige Moral. Da ist zum Beispiel ein Ehepaar, das 135000 Euro braucht, um seine Pension aufzubessern. 120000 Euro haben sie durch eine Erbschaft erworben, und als sie den Rest zusammen haben, legen sie die Summe auf die hohe Kante und verprassen den Rest, denn sie sind der Meinung, ihre Kinder sollten sich nicht auf eine Erbschaft verlassen und statt dessen ihren Wohlstand selbst erarbeiten. Ich glaube, man nennt so etwas Bigotterie.
Ansonsten hat man den Eindruck, als würde in Greiters Welt nur noch gestorben. Alle sind derart auf ihren Tod fixiert, daß sie kaum mehr dazu kommen, zu leben.

Greiters Ansatz ist durchaus interessant. Und seine Botschaft ist durchaus wichtig: Fürchtet den Tod nicht!
Besser wäre aber: Lebt!
Der Sinn des Lebens liegt im Augenblick. Im Jetzt. Ich bin da. Das ist der Sinn des Lebens. Ich bin nicht mehr da. Das ist der Sinn des Todes.



Mittwoch, 24. Oktober 2012

AUSSER DER LIEBE UND DEM TOD

von Ilka Lohmann
Rezension zu „Der Potemkinsche Hund“ (Roman) von Cordula Simon
erschienen bei Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
ISBN: 978-3-85452-688-9; Preis: 19,90 Euro




„Was ist schön außer der Liebe und dem Tod?“, fragt Walt Whitman in seinem Gedicht „Scented Herbage of my Breast“ (1888). Beide Themen greift die österreichische Autorin Cordula Simon in ihrem Erstlings-Roman „Der Potemkinsche Hund“ auf und beweist damit einmal mehr, daß die deutsche Gegenwartsliteratur zwar ihren Schwung verloren haben mag, die österreichische aber nicht.

Irina, Mitte Dreißig und alleinstehend, lebt in Odessa und ist verliebt in ihren Nachbarn Anatol. Aber Anatol stirbt plötzlich und unerwartet. Dieser Tod stürzt Irina in eine tiefe Krise. Sie, eine Chemikerin, wendet ihre Fähigkeiten an, schleicht sich nachts auf den Friedhof und versucht, den Leichnam wieder zum Leben zu erwecken. Vermeintlich scheitert ihr Experiment. Sie wartet nicht lang genug, um Anatols Rückkehr aus dem Reich der Toten mitzuerleben. Sie beginnt nun, ihr Leben zu bedenken, ihre verpaßten Chancen und ungenutzten Möglichkeiten und verläßt die Stadt.
Anatol indessen kehrt aus dem Grab zurück. Ein Hund, er nennt ihn Celobaka (russ. Menschhund), führt ihn durch die Straßen und wird ihm zum treuen Begleiter. Anatol versucht, sich zu erinnern, doch obwohl er wiederbelebt wurde, kann er sein Leben nicht mehr wiederfinden. Es ist vorbei. Es ist beendet. Unwiderruflich. Mit jedem Tag verblassen die Bilder ein wenig mehr.
Als Irina und Anatol einander auf ihren eigenen Odysseen doch begegnen, bleibt das Feuer aus. Sie bleiben Fremde. Die Liebe ist tot. Wie das Leben. Irina hat alles verloren außer ihrer Verzweiflung, und Anatol verschwindet in der Nacht.

Es könnte ja fast ein Schauerroman sein. Doch trotz des Zombies Anatol, der stinkend und verwesend durch die Straßen von Odessa und Kiew wandert, stellt sich kein Schauer ein. Vielmehr wird das Absurde der Situation zu einer merkwürdigen Realität.
Während Anatol sich nicht an sein Leben erinnern kann, wird Irina von ihren Erinnerungen geradezu überschwemmt – eine Flut, der sie sich nicht wiedersetzen kann. Anatol ist gestorben, und auch sie fühlt sich wie eine lebende Tode. Innerlich ist sie ebenfalls ein Zombie. Sie, die immer hinter den anderen stand, auf die nie der Scheinwerfer fiel, die all ihre Chancen, glücklich zu werden, vertan zu haben glaubt, die keinen eigenen Blick zu haben scheint und sich selbst immer nur mit fremden Augen betrachtet. Sie meint, von einer Doppelgängerin verfolgt zu werden – ein Symptom der Spaltung, in die der Abscheu vor sich selbst sie getrieben hat.

Nein, dieses Buch ist nicht schauerlich. Es ist kein Horrorroman im Stile von Steven King. Doch düster ist der Roman auf alle Fälle. Es ist ein bemerkenswertes Stück Gegenwartsliteratur.
Es mag zu Beginn nicht leicht zugänglich sein, doch es öffnet sich allmählich dem Leser wie die Tür einer Gruft zu Mitternacht. Die Sprache ist einfach, nahezu kühl.
Ein Höhepunkt ist das 15. Kapitel. Hier gibt sich die Verfasserin nahezu rhapsodisch einem großen Entwurf über das Leben, den Tod, die Liebe und die Qual des alltäglichen Dasseins hin. Hier bringt sie den Menschen auf einen Punkt. Der Mensch, der Verlorene im Universum. Der Tod, der ein Freund sein kann, der hilft, der dahineilenden Zeit einen Anker und Bedeutung zu geben.

Cordula Simons Erstlings-Roman ist ein kleines Meisterwerk. Es fällt schwer, in der Gegenwartsliteratur Ähnliches zu benennen. Allenfalls wären es Jelineks „Die Kinder der Toten“ oder – um die Gegenwart zu verlassen - „Der Fall Waldemar“ von Edgar Allan Poe.
Was ist das für eine Welt, in der die Toten auferstehen, weil die Liebe nach ihnen ruft, und der die Liebenden am Ende doch nicht zu einander finden?








Dienstag, 2. Oktober 2012

DER GOETHE&SCHILLER-PAKT - Zeitreise in die Freundschaft

Hörbuch von Frederik Beyer und Mark Pohl
Nach dem gleichnamigen Schauspiel von Michael Kliefert
Erschienen bei Wolf Productions 2012
(Rezension von Ilka Lohmann)

So jung ist das Medium Hörbuch nicht mehr. Inzwischen ist es Standard, daß Hörbücher zeitgleich mit ihren papiernen Geschwistern veröffentlicht werden. Der dritte Weg der literarischen Publikation – neben dem E-Book.
Während aber auf der einen Seite von gewissen Kreisen schon das Ende des Buches aus Papier und Leinen lauthals verkündet wird, bleibt das Hörbuch, wenn es nichts weiter als einen Vortrag eines textlichen Corpus enthält, weit unter seinen Möglichkeiten.
Wie man es anders und besser machen kann, zeigt das Hörbuch „Der Goethe-und-Schiller-Pakt“, gelesen von Frederik Beyer und Mark Pohl, nach einem gleichnamigen Theaterstück von Michael Kliefert.

Die beiden Schauspieler Beyer und Pohl, beide aus Weimar, standen mit diesem Stück lange auf der Bühne. Nachdem es im letzten Jahr vom Spielplan genommen wurde, beschlossen beide, einen anderen Weg zu finden, um diesem Stück weiterhin Leben und Aufführung zu geben und es für Menschen auf andere Weise, auch jenseits der Theaterräume, erlebbar zu machen. So stießen sie auf das Medium des Hörbuches.

Im Stück, auf dem Hörbuch dialogisch vorgetragen, wird die Geschichte der Dichterfreundschaft zwischen Johann Wolfgang Goethe (Frederik Beyer) und Friedrich Schiller (Mark Pohl) vorgetragen.
Der Hörer kann den Weg, den beide Freunde mit einander unternahmen, mit verfolgen. Die Freuden und Leiden, die Anteilnahme. Man erlebt die beiden Dichter, wie sie an ihren Balladen schreiben und verzweifeln, wie sich gegenseitig Halt und Unterstützung geben auf den steinigen Pfaden der klassischen Literatur. Und am Ende Schmerz und Tod. Das Leben als Schauspiel, als Bühne, als Drama.
Heiter geht es zu, wenn die Dichter ihre Xenien rezitieren. Trauriger, berührend, nahegehend wird es, wenn Schiller stirbt – zu jung.
Sehr schön und befreiend für den Hörer ist dabei, daß hier nicht zwei Heroen der Literatur auf ein Marmorpodest gehoben werden, sondern es zwei Menschen sind, die mit einander leben und reden und arbeiten. Und man kann erleben, wie Literatur entsteht, daß es immer Arbeit ist und das selbst solche Geister, die von der Nachwelt groß gemacht worden sind, an ihren Sätzen und Formulieren schier verzweifeln wollen, so wie Schiller am Wallenstein.

Kunst kann Türen öffnen, wenn auch nur einen Spalt breit. Und auch wenn es nur Fiktion ist, was Literatur uns gibt, so schafft sie doch, das, was keiner mehr weiß, keiner mehr wissen kann, weil er es nicht erlebt hat, in Bilder, in Bewegung, in Wirklichkeit zu verpacken. Genau das gelingt auch diesem Stück. Man bleibt doch, selbst wenn man Biographien liest, Gräber besucht und ehemalige Wohnhäuser durchwandert, immer nur an der Außenseite der Geschichte kleben – wie eine Fliege an der Fensterseite.
Aber historische Fiktion kann diese Scheibe durchdringen.
Kliefert hat Goethe und Schiller aus ihren Gräbern geholt, Pohl und Beyer haben ihnen Leben eingehaucht, und man meint, zumindest durch ein Schlüsselloch darauf zu blicken, wie es wirklich war, wie es wirklich hätte sein können in dieser Dichterfreundschaft, die so sehr von Legende und Wirklichkeit – um nicht zu sagen: von „Dichtung und Wahrheit“ - durchdrungen ist, daß es schwer ist, das eine von dem anderen zu unterscheiden.
Aber in der Kunst muß das nicht sein. Literatur und Theater haben ihre eigene Wahrheit.

Mit dem Hörbuch „Der Goethe-und-Schiller-Pakt“ ist ein spannendes Experiment gelungen – Theater auf CD zu bannen – von den Dimensionen der sinnlichen Wirklichkeit reduziert auf den reinen Klang. Der Vortrag von Beyer und Pohl tut das seinige dazu. Nuanciert, lebendig. Beide haben eine stimmliche Meisterleistung vollbracht. Ja, ihr Vortrag läßt ihre körperliche Abwesenheit vergessen. Die Bilder, die nötig sind, finden sich wie von selbst vor dem inneren Auge ein. Eine Zeitreise in Hörbuchform.
Nicht zuletzt etwas, das man so manchen „DeutschlehrerInnen“ nahe legen sollte, damit die nicht vergessen, daß hinter dem, was man immer als so groß und hehr und edel darstellen möchte, Menschen steckten, die aus Fleisch und Blut waren und sich in den Grundlegungen ihres Leben gar nicht so sehr von uns unterschieden.

  





Mittwoch, 26. September 2012

DIE MASKIERTE LADY

[Anmerkung: Nur ein gelegentliches Stück, einzig zum Zweck der Unterhaltung geschrieben. Sherlock-Holmes-Fans könnten eventuell ins Schmunzeln kommen. Ilka Lohmann]


Ich geb es ehrlich zu, mir fehlt zum Schreiben die Geduld, obwohl ich sehr ausdauernd sein kann. Heute allerdings muß ich zur Feder greifen, denn es ist nicht zu erwarten, daß mein alter Freund Dr. Watson selbst den Stift in die Hand nimmt, um diese denkwürdige Begebenheit niederzuschreiben.
Nun, dann will ich beginnen.
Ich hatte einige Wochen auf dem Lande verbracht, um meine Gesundheit zu befördern und war guter Dinge in die Bakerstreet zurückgekehrt. Doch schon in der Tür fiel mir auf, daß etwas nicht so war, wie es sein sollte.
Etwas stimmte nicht, und wie ich rasch beobachtete, war es Watson. Er beachtete mich kaum, als ich unser Zimmer betrat, sondern saß in einer dumpf brütenden Stimmung, die ich an ihm nicht kannte, auf dem Sofa – den Blick starr auf das Fenster gerichtet.
Als ich seine Schulter antippte, fuhr er zusammen.
Ah, Holmes“, erwiderte er trübselig, „Sie sind wieder da.“
Allerdings“, sagte ich und setzte mich zu ihm. Seine Apathie mir gegenüber verärgerte mich. „Aber Sie sind es offensichtlich nicht ganz. Was ist denn das für eine Begrüßung.“
Jaja, schön, das Sie wieder da sind. Ich hab Sie vermißt wie nur etwas“, gab er mir lustlos zur Antwort.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte mich zurück. „Also gut, Watson, was ist los? Wollen Sie mir antworten oder muß ich die Kunst der Deduktion an Ihnen ausüben?“
Bloß nicht“, antwortete Watson, und begann seine Geschichte zu erzählen.
Es stellte sich heraus, daß Watson während meiner Abwesenheit einen Maskenball besucht hatte. Nur der Himmel weiß, wie er auf diese Idee gekommen ist. Jedenfalls hat er da eine Frau kennengelernt und sich prompt verliebt. Der arme, treuherzige, rührselige Watson. (Ich lache, während ich dies schreibe.) Nun plagte ihn großer Schmerz, denn er wußte rein gar nichts von ihr, kannte weder ihren Namen, noch ihr Gesicht, da sie eine Maske trug, und also wußte er nicht, wie er sie wiederfinden sollte. Zumal er auch nicht ein Wort mit ihr gewechselt hatte.
Ich schlug mit gespielter Entrüstung die Hände über dem Kopf zusammen. „Watson, wenn Sie nicht wissen, wie die Dame aussieht und noch nicht einmal mit ihr gesprochen haben, wie kommen Sie dann darauf, daß Sie verliebt sind?“
Liebe ist eine Energie“, gab Watson zur Antwort. „Sie fragt nicht nach, sie trifft einen. Aber davon verstehen Sie nichts.“
Gewiß“, entgegnete ich. „Vielleicht haben Sie sich ja in das Kleid der Dame verliebt.“
Watson warf mir einen zornigen Blick zu.
Na gut, na gut“, sagte ich, bereit, um des lieben Friedens willen einzulenken. „Dann wollen wir doch mal sehen, wie wir Ihre Herzdame finden können. Wer hat den Ball veranstaltet?“
Der Duke of Holderness.“
Soso.“ Der Duke war mir bekannt. „Dann sollten wir uns an ihn wenden und ihn um die Gästeliste bitten.“
Als ich das sagte, ging ein Leuchten über Watsons Gesicht, und mein Freund grinste sehr einfältig.
Ich machte mich dann also auf den Weg. Der Duke of Holderness war sehr kooperativ, und als er von meinem Anliegen erfuhr, gab er mir alle Unterstützung, die ich brauchte. So hatte ich bald die Identität der fremden Dame herausgefunden, und ich hatte auch gleich, um Nägel mit Köpfen zu machen, ein Rendevouz zwischen Watson und ihr arrangiert. Die beiden sollten sich am Samstagabend im Cafè Royal treffen.
Weil mein Freund so nervös war, begleitete ich ihn zu dem Treffen. Er hatte mindestens einen Zentner Gel in seine Haare geschmiert, und sich dermaßen mit Parfum eingesprüht, daß selbst ein Stinktier davongelaufen wäre.
Am Eingang des Restaurants verabschiedete er sich von mir. „Sitzt auch alles?“, fragte er und zupfte nervös an seiner Krawatte.
Ja doch“, sagte ich und wischte noch ein Stäubchen von dem Kragen seines Jacketts.
Dann betrat Watson das Restaurant. Ich wartete vor der Tür. Zu gern hätte ich ihn begleitet, denn ich wußte, was für eine Überraschung dort seiner harrte.
Es dauerte auch nicht lange, da kam Watson wieder heraus. Nun, er kam nicht. Er rannte. Er preschte mir entgegen mit der Energie einer mittleren Dampfmaschine. Er prallte mit mir, der ich noch an der Tür stand, zusammen. Und danach wurde es dunkel.
Als ich wieder aufwachte, lag ich im London Brigde Hospital. Watson saß an meinem Bett und machte sich schwere Vorwürfe. Immer wieder beteuerte er, wie leid es ihm tat, daß er mich umgestoßen und mich dann die Kutsche beinahe überfahren hatte.
Nicht der Rede wert“, sagte ich. „Immerhin lebe ich noch. Und Sie waren auch ein wenig außer sich.“
Allerdings“, meinte Watson und senkte betrübt den Kopf. „Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß die Dame der Sohn des Dukes in einem Kleid seiner Mutter war?“
Ich seufzte. In der Tat war es mir nicht in den Sinn gekommen, meinem Freund einfach die Wahrheit über seine Angebetete zu sagen. So erwiderte ich einfach: „Watson, weil ich ein schlechter Mensch bin.“