Montag, 29. Juni 2009

AUS DER ENDLOS SCHAUKELNDEN WIEGE

(Übersetzung - frei nach Walt Whitman)

Aus der endlos schaukelnden Wiege,
aus der Kehle der Spottdrossel, dem singenden Weberschiff,
aus der Mitternacht des neunten Monats,
über den fruchtlosen Sand und den jenseitigen Felder, wo das Kind,
dem Bett entsprungen, einsam wanderte, barhäuptig, barfüßig,
hinab von dem glänzenden Heiligenschein,
hinauf zum mystischen Spiel der Schatten, die windend und drehend, als
wären sie am Leben,
aus den Büschen der Heckenrosen und Brombeeren,
aus der Erinnerung des Vogels, der mir sang,
aus deinen Erinnerungen, trauriger Bruder, aus dem unsteten Steigen und Fallen, das ich hörte,
hervor unter dem gelben Halbmond, der spät sich erhob und wie von Tränen verquollen,
aus den ersten Tönen von Sehnsucht und Liebe dort im Nebel,
aus den tausend Erwiderungen meines Herzens, die nie enden werden,
aus den Myriaden dort erhobener Worte,
aus dem Wort – stärker und süßer als alle anderen,
aus all dem, als würden sie den Ort aufs Neue besuchen,
diesseits geboten, ehe alles mir auswich und davon eilte,
ein Mann, der doch in seinen Tränen wieder der Junge ist –
werfe ich mich in den Sand und den Wellen entgegen,
ich, der Sänger von Schmerz und Lust, der das Jetzt und das Später verbindet,
der jeden Fingerzeig ergreift und verwendet, doch geschwind darüber hinweg geht
und eine Erinnerung singt.

Einst der Paumanok.
als der Fliederduft die Luft erfüllte und das Gras des fünften Monats sproß.
Über dem Meeresstrand in den Heckenrosen,
zwei gefiederte Gäste aus Alabama, zwei zusammen,
und ihr Nest, und vier Eier – hellgrün mit brauen Flecken,
und jeden Tag flog der Vogelmann hin und her,
und jeden Tag saß die Vogelfrau in ihrem Nest, still, mit leuchtenden Augen,
und jeden Tag ich, der neugierige Junge, nie zu nah, der sie nie störte
und vorsichtig zu ihnen lugte, der ihre Lieder trank und übersetzte.

Leuchte! Leuchte! Leuchte!
Ergieße auf uns dein Licht, Sonne,
dieweil wir uns darin wärmen, wir beiden zusammen.

Wir beide zusammen!
Winde wehen von Süden, Winde wehen von Norden,
Tag kommt weiß, Nacht kommt schwarz,
Heimat, die Flüsse und Berge der Heimat,
singend die ganze Zeit und die Zeit vergessend,
dieweil wir zusammen sind.

Doch dann unerwartet,
vielleicht getötet, unbekannt dem Gefährten,
saß eines Vormittags die Vogelfrau nicht mehr in ihrem Nest,
sie kam nicht zurück an diesem Nachmittag, auch nicht am nächsten,
und nie kehrte sie wieder.

Von da an, den Sommer hindurch im Rauschen des Meeres,
und des Nachts unter dem vollen Mond in ruhigerem Wetter,
über den heißeren Wogen des Meeres
oder flatternd tags von Heckenrose zu Heckenrose
sah ich, hörte ich den Zurückgebliebenen, den Vogelmann,
den einsamen Gast aus Alabama.

Weht! Weht! Weht!
Weht auf, Winde vom Meer, über das Ufer des Paumanok!
Ich warte und warte, bis ihr meine Gefährtin zur mir zurück blast.

Ja, als die Sterne funkelten,
saß die ganze Nacht hindurch auf den Spitzen der moosbewachsenen Pfähle,
beinahe inmitten der schlagenden Wellen,
der einsame, zu wundervollen Tränen rührende Sänger.

Er rief nach seiner Gefährtin,
er vergoß die Worte, die nur ich unter allen Menschen verstand.
Ja, mein Bruder, ich weiß es,
der Rest mag es nicht, aber ich bewahrte jeden Ton,
Denn mehr als einmal glitt ich hinunter zum Strand,
still, im Dunkel des Mondlichts, mich selbst blendend mit den Schatten,
nun erinnere ich mich der düsteren Formen, der Echos, der Geräusche, der Seufzer,
alle nach ihrer Nacht,
der weißen Arme der unermüdlichen Brandung,
als ich, mir bloßen Füßen, ein Kind, den Wind in meinem Haar,
lauschte lange und lange.

Ich lauschte, um zu bewahren, um zu singen, um die Töne zu übersetzen,
dir folgend, mein Bruder!

Sanft! Sanft! Sanft!
Die Welle besänftigt die Welle, die ihr folgt,
und diese umarmt die nächste,
aber meine Liebe besänftigt mich nicht, mich nicht!

Tief hängt der Mond, spät ist er aufgegangen.
Er zögert, oh, ich denke, das Herz ist ihm schwer vor Liebe, vor Liebe,
Oh irrsinnden legt sich die See über das Land
mit Liebe, mit Liebe.

Oh Nacht, ich sehe meine Liebe nicht mehr über der Brandung flattern.
Was ist das schwarze Ding, das ich sehe über dem Weiß?

Laut! Laut! Laut!
Laut rufe ich nach dir, meine Liebe!
Hoch und klar werfe ich meine Stimme über die Wellen,
du mußt doch sicher wissen, wer dich ruft, dich ruft!
Du mußt doch wissen, daß ich es bin, meine Liebe!

Tief hängender Mond!
Was für ein Schatten verdunkelt dein gelbbraunes Antlitz?
Oh, es ist der Schatten, der Schatten meiner Gefährtin!
Oh Mond, halt sie doch nicht länger fern von mir!

Land! Land! Land!
Wohin ich mich auch wende, o, ich denke, du kannst mir meine Gefährtin zurück geben,
wenn du es nur wolltest!
Denn beinahe bin ich mir sicher, daß ich sie erblicke, wohin auch immer ich schaue!

O ihr aufsteigenden Sterne!
Vielleicht wird die eine, die ich so begehre, sich mit euch erheben!

Oh Kehle! Oh zitternde Kehle!
Klarer mußt du durch die Atmosphäre tönen,
durchdinge den Wald, die Erde,
irgendwo lauscht die eine und kann dich vernehmen!

Singt doch die fröhlichen Lieder!
Hier Einsamkeit, die fröhlichen Lieder der Nacht!
Die fröhlichen Lieder der einsamen Liebe! Des Todes fröhliche Lieder!
Fröhliche Lieder unter dem zögernden, gelben, schwindenden Mond!
Oh, unter dem Mond versinkt sie beinah ins Meer!
Oh, ruhelose, fröhliche Lieder der Verzweiflung!

Doch sanft! Sinke nieder!
Sanft! Laß mich nur murmeln!
Und willst du nicht inne halten, du heißer rauschende See,
denn ich glaube, ich höre die antwort meiner Gefährtin!
So leise, ich muß inne halten, inne halten,
doch nicht zu sehr, sonst kommt sie nicht
sogleich zu mir zurück.

Hierher, meine Liebe!
Hier bin ich! Hier!
Mit dieser gerade noch tönenden Note verkünde ich mich selbst für dich,
dieser sanfte Ruf gilt dir, meine Liebe, gilt dir!

Bleib doch nicht zurück!
Das Rauschen des Windes ist nicht meine Stimme,
Dort ist der Meerschaum, der mit seinen Flügeln schlägt,
Und das sind die Schatten der Blätter!

Oh Dunkelheit! Vergeblich!
Oh, ich bin krank und sorgenvoll.

Ein brauner Schimmer im Himmel, nahe dem Mond, sinkt über das Meer!
Oh sorgenschweres Spiegelbild des Meeres!
Oh Kehle, oh blutendes Herz!
Und ich singe vergeblich, vergeblich durch die Nacht.

Oh Vergangenheit! O glückliches Leben! Oh Lied der Freude!
In der Luft, in den Wäldern, über den Äckern!
Geliebt, geliebt, geliebt, geliebt, geliebt!
Doch meine Gefährtin ist nicht mehr, nicht mehr bei mir!
Wir zwei sind nicht mehr zusammen.

Der Gesang versinkt
doch alle bleibt, wie es ist, und die Sterne leuchten!
Die Winde wehen, die Töne des Vogels hallen unaufhörlich wider,
Die wütende, seufzende alte Mutter seufzt fort und fort.
und der graue Sand vom Ufer des Paumanok rauscht dahin,
der gelbe Halbmond wächst, sinkt nieder, fällt, berührt beinahe
das Antlitz des Meeres.
Der Junge, verzückt, seine nackten Füße umspült von den Wellen,
das Haar umspielt vom Wind,
die Liebe im Herzen, die lang verborgene, die sich nun im Sturm los macht und befreit,
der Sinn des Gesangs, die Ohren, die Seele rasch abgelegt,
die fremden Tränen, die über die Wangen rinnen.
Dort das Gespräch, selbdritt, jeder spricht
nur mit gedämpfter Stimme, die wilde alte Mutter schreit fort und fort,
Und der Seele des Jungen nahen sich mürrisch die Fragen, versunken und zischend,
zu dem aufbrechenden Barden.

Dämon und Vogel (so sprach des Knaben Seele,)
singt du nach deiner Gefährtin, oder singt du nach mir?
Denn ich ein Kind war, und meine Zunge lang noch im Schlaf, doch nun, da ich dich hörte,
weiß ich, wer ich bin und bin erwacht.
Und klingen in mir tausend Sänger und tausend Lieder, klarer, lauter
und sorgenvoller als deine!
Und tausend klingende Schatten haben in mir zu leben begonnen, nie wieder zu sterben.

O, du einsamer Sänger, der du für dich singst und mich entwirfst,
O einsames Ich, nie wieder werde ich aufhören, dir zu folgen.
Nie wieder werde ich fliehen, nie wieder sei der Widerhall,
nie wieder seien die Schreie verlorener Liebe fern von mir,
nie wieder werde ich das friedliche Kind sein, das ich war
vor dieser Nacht.
Durch das Meer unter dem gelben, zagenden Mond
erhoben sich der Bote, das Feuer, die süße Hölle des Inneren,
das unbekannte Verlangen, mein Schicksal.

Oh, weise mir den Weg! (Er verbirgt sich irgendwo in dieser Nacht!
Oh, wenn ich schon so viel haben soll, gib mir noch mehr!

Ein Wort also (denn ich werde es besiegen),
das Letzte Wort, das über allen steht,
zaghaft, das weiter klingt. Wie lautet es? Ich lausche;
Ihr flüstert es, so wie ihr es immer getan habt, Wellen der See?
Stamme es von euren Wassern und dem feuchten Sand?

Wozu antwortend, die See,
nicht zögernd, nicht eilend,
zu mir flüsterte durch die Nacht und die Dämmerung,
zu mir lispelte das tiefe, süße Wort Tod,
und wieder Tod, Tod, Tod, Tod.
singendes Zischen, kein Vogel, kein bebendes Kinderherz,
doch näher sinkend, rauschend zu meinen Füßen,
meine Ohren durchdringend, und reinigend mich sanft umhüllend,
Tod, Tod, Tod, Tod, Tod.

Nie werde ich vergessen.
Ich verschmelze das Lied meines düsteren Dämons und Bruders,
das er im Mondlicht sang über dem grauen Strand des Paumanok,
mit den tausend Liedern der Antwort,
denn in dieser Stunde erwachten meine eigenen Lieder,
und mit ihnen der Schlüssel, das Wort der Wellen,
das Wort des süßesten Liedes und aller Lieder,
das starke, liebliche Wort, das, zu meinen Füßen
(oder gleich dem alten Weib, das an der Wiege, gehüllt in feine Kleider, sich zur Seite neigt)
die See zu mir flüsterte.


Anmerkung:
Für die Original-Version dieses Gedichts empfehle ich das Whitman Archive und folgenden Link:

http://whitmanarchive.org/published/LG/1891/poems/107

2 Kommentare:

  1. Herzlichen Dank für diese wunderbare Übertragung.

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  2. Vielen Dank für dein Lob! Das ist mein Lieblingsgedicht von Whitman. So schwer es ist, seinem Genie gerecht werden zu können, ist es schön, als Zwerg auf den Schultern eines Riesen zu stehen und den Ausblick zu genießen.
    Liebe Grüße, Ilka

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