Samstag, 28. Juli 2012

MARTIN LUTHER - MENSCH UND CHRIST

Essay - vorgetragen am 28. Juli 2012 in der Kirche zu Kleinromstedt
anläßlich eines Konzerts im Rahmen der Dorfkirchenmusiken im Weimarer Land





Eine der bedeutsamsten historischen Persönlichkeiten deutscher Abstammung ist mit Sicherheit Martin Luther. Luther, der Mönch, der Theologe, der Revolutionär und der Reformator. „Larger than life“ möchte man manchmal denken, wenn man versucht, tiefer in Leben und Werk und vor allem in die Persönlichkeit dieses Mannes vorzudringen.
Wie alle Großen der Geschichte gibt es Luther zweimal. Der eine ist der Mensch aus Fleisch und Blut, der lebte und liebte und seine Zeit auf Erden verbrachte. Der andere ist die Persönlichkeit, ein Heros, eine fast schon mythische Figur. Viel der Großen haben diese Verdopplung erfahren – Barbarossa, Armin der Cherusker, Goethe. Durch die sagenhafte Überhöhung aber werden diese Figuren von uns entfernt. Wir wagen es kaum noch, sie zu berühren, und wenn, dann müssen wir uns mit dem Schild der Ironie wappnen, um uns zu schützen gegen die Erhabenheit, die vielleicht keine ist. Hin und wieder kommen Menschen und versuchen, die Helden von ihren Sockeln zu stoßen. Obwohl das nicht nötig ist. Wir wissen ja instinktiv, daß die Menschen nicht identisch sind mit ihren marmornen Abbildern, und wir brauchen sie doch, unsere Helden.

Im Jahre 2017 steht ein großes Jubiläum an. Es werden dann exakt 500 Jahre vergangen sein, seitdem sich Martin Luther am Vorabend von Allerheiligen im Jahre 1517 aufmachte, um – so sagt es die Legende – seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg zu schlagen. Seit 2007 feiert die EKM ihre Lutherdekade. Inzwischen ist Halbzeit.
Luther ist natürlich das Zentralgestirn, ist Dreh- und Angelpunkt dieser Festzeit. Natürlich ist er der Held. Die lutherische Kirche will ihren Begründer feiern, der für die gerechte Sache Leib und Leben riskierte. Wie es das Schicksal will, war Luther eine vielschichtige Persönlichkeit, die nicht leicht einer Schublade zuzuordnen ist. Das macht ihn zu einer idealen Projektionsfläche für alle möglichen Argumente, um Kirche zu gestalten.
Sicher ist nur eines: Der wirkliche Luther war bestimmt ganz anders.

Luthers Eintritt in den Augustinerordern erfolgte nicht in erster Linie wegen einer tiefen, inneren Berufung. Er war ein junger, weltlich gesinnter Student der Rechtsgelahrtheit, als er auf dem Weg nach Erfurt von einem Gewitter überrascht wurde und erschrocken auf die Knie fiel mit dem Stoßgebet: „Hilf, Heilige Anna! Ich will Mönch werden.“
Seine Zeit im Kloster verlief denn auch in den ersten Jahren recht unspektakulär. „Wer einst den Blitz zu zünden hat, muß lange Wolke sein.“ (Lilje, 2006, S. 63) Nur durch eine Sache machte er von sich reden: durch sein exzessives Beichten. Er beichtete alles, was ihm auch nur im entferntesten Sinne als Sünde erschien, bis ihn schließlich sein Beichtvater ermahnte, er solle nicht immer mit solchem „Humpelwerk und Puppensünden“ kommen. Was Luther in diesen Zeiten umtrieb, war die große Frage nach dem gnädigen Gott. Wie konnte man Vergebung vor Gott erlangen? Wie konnte man ein aufrechtes, sündenloses Leben führen? Wie sollte man rechte Buße tun?
In jener Zeit blühte der Ablaß-Handel. Der Papst in Rom wollte den Petersdom erbauen und hatte beschlossen, das Geld für diesen Zweck mit den Sünden der Leute zu verdienen. Also, man bezahlte einen gewissen Betrag, je nach Sünde, und erhielt so die Absolution. In Luthers Augen ein Ding der Unfassbarkeit. Seine Empörung über diese Praxis des Ablasshandels war es, die ihn letztlich zu seinem Thesenanschlag veranlasste.
Mit dieser schlichten Tat, von der man in Rom zunächst kaum Notiz nahm, stieß Luther eine Lawine los. Am Ende formte sich eine Bewegung, die Luther zwar zu ihrer Galionsfigur erkoren hatte, aber deren Ziele, Vorgehensweisen und Siege nicht unbedingt dem entsprachen, was Luther gewollt hatte.

Luther war kein Umstürzler, auch wenn der Umsturz ihm folgen sollte. Er wollte ein Reformator sein, er wollte seine Kirche reformieren. Sie sollte sich wieder auf ihre Mitte konzentrieren, auf ihr Wesen, auf das, was sie ausmachte: Jesus Christus. Sie sollte durch Liturgie in der Landessprache näher zu den Menschen kommen, von den Menschen besser verstanden werden. Und sie sollte ihre Lehre bereinigen von allem, was nicht Christus war, von allem, was die Botschaft des Gottessohnes leugnete oder verfälschte.
Liturgie war ein Kernpunkt seiner Gedanken. Ebenso die Feier des Abendmahls, der Eucharistie.
Die Bilderstürmerei, wie sie im Zuge von Reformation und Bauernkrieg um sich griff, war Luther ein Greuel. Er sagte: „So wird dies wahrlich dich auch zu keinem Christen machen, daß du die Klöster einreißt, die Obrigkeit verachtest, dich voll und toll frissest und säufst.“ (Lilje, 2006, S. 93)

Luther ist ein tragischer Held. An vielen Dingen, denen sein Name gegeben wurde, war er nicht beteiligt. Vieles von dem, was in seinem Namen geschah, hat er nicht gewollt.
Aber er hat nicht aufgegeben. Wenn er auch am Ende resignieren mußte.
Lieber Herre Jesu Christe“, so schreibt er wenige Jahre vor seinem Tod, „halt du selbst Konzilium und erlöse die deinen durch deine herrliche Zukunft.“ (Lilje, 2006, S. 116)

Hans Lilje, der Historiker und Theologe, schreibt über Martin Luther: „Die geschichtliche Größe des alten Luther besteht darin, daß er unbeirrt bis zu seinem letzten Lebenstage aus der Erkenntnis heraus lebt, die er gelehrt hat: Gott macht die Sünder gerecht.
Luther fand seinen gnädigen Gott. (Lilje, 2006, S. 119f-)

Zum Schluß möchte ich Philipp Melanchthon zu Wort kommen lassen, Luthers Freund, Weggefährten und Mitstreiter.
Er sagte, als er Luthers Eulogie hielt: „Jeder, der ihn (Martin Luther) genauer gekannt hat und oft in seiner Nähe gewesen ist, muß bezeugen, daß er ein sehr gütiger Mann war, im Verkehr mit anderen in allen Reden milde, freundlich und sanft und gar nicht frech, stürmisch, eigensinnig oder zänkisch. Und doch lag gleichzeitig Ernst und Festigkeit in seinen Worten und Gebärden, wie es einem solchen Manne zukommt. … daher ist es offenkundig, daß die Härte, die er gegen die Feinde der reinen Lehre anwandte, nicht auf ein zänkisches und boshaftes Gemüt zurückzuführen war, sondern auf ein großes und ernstes Streben nach Wahrheit. Das müssen wir und viele andere, die ihn gesehen und gekannt haben, von ihm als Zeugnis ablegen.“ (Lilje, 2006, S. 130)


Literatur:
Hanns Lilje (2006) Martin Luther – mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowolth Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg 


Der für das Konzert festlich geschmückte Altar der Kirche Kleinromstedt

Samstag, 7. Juli 2012

ÜBER DIE VERGEBUNG ALS CHRISTLICHE TUGEND

Gestern abend habe ich jemanden sagen hören, daß Vergebung zwar eine christliche Tugend sei, daß sie aber nur dann möglich wäre, wenn der andere seine Schuld auch eingestehen würde.
Nun frage ich mich: Ist das wirklich christlich?
Erstens, habe ich das Recht, über die Schuld eines anderen zu urteilen? Was sagt Jesus dazu? "Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit dem Maß, mit dem ihr meßt, sollt ihr gemessen werden."
Zweitens: Kann es verboten sein, zu verzeihen? Darf sich sich die Vergebung eines Menschen, mithin eines Sünders (denn wir alle versündigen uns immer wieder), an kleinliche Bedingungen knüpfen? Was sagte Jesus, als man ihn fragte, wie oft man seinem Bruder vergeben sollte? "Da fragte Petrus: 'Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er mir Unrecht tut? Ist siebenmal denn nicht genug?' - 'Nein', antwortete Jesus. 'Nicht nur sieben mal. Sondern bis siebzig mal sieben mal.'"
Also ist diese Art der Vergebung, die den anderen zum Schuldeingeständnis zwingen und somit auch erniedrigen will, keine christliche Vergebung. Das ist nicht das Wort Jesu.
Hat Jesus von Maria Magdalena gefordert, daß sie ihm bekannte, eine Ehebrecherin zu sein? Es war ihm egal. Er hat zu den Leuten gesagt: "Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein."
Also: Vergebt einander, wie Christus euch vergeben hat. Nur der, der ohne Sünde ist, hat ein Recht auf unsere Bekenntnis. Das ist also Christus, das ist Gott. Selbst in der Beichte ist es ja nicht der Priester, vor dem ich meine Missetaten offenbare, es ist Gott, zu dem ich spreche, und der Priester ist "nur" sein menschlicher Mittler. 
Und noch ein dritter Grund: Wenn ich jemandem vergebe, befreie ich letztlich mich selbst. Ich kann dann aufhören, dem anderen zu grollen und wieder ein wenig befreiter atmen. Es geht letztlich auch darum, sich selbst einen Gefallen zu tun. Wer allen Menschen gram ist, weil sie anderer Meinung sind oder in seinen Augen einen Fehler gemacht haben oder warum auch immer, der kann nicht glücklich leben, der muß verbittern. Und das ist doch nicht erstrebenswert. Das kann keiner wollen.
Wie bedeutsam das Thema Vergebung für einen Christen sein sollte, lehrt Christus sehr eindringlich durch seine Worte am Kreuz. "Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" Der Sterbende, der als Schuldloser die Sünden aller Menschen auf sich nimmt, spricht hier das große Wort des Verzeihens aus, an der Schwelle zum Tod, mitten im tiefsten Leiden. Kein Gedanke daran, erst die Schuldbekenntnis der anderen hören zu wollen. Sondern Vergebung für alle, heraus aus der Quelle einer unendlichen, endlosen, allumfassenden Liebe. Die Liebe Gottes verzeiht uns all unsere Sünden, davon bin ich fest überzeugt, denn das Maß Gottes ist ein anderes als unser menschliches Maß.
 So lehrt es uns auch das Gebet, das alle Christen vereint. Das Vaterunser. "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern." Also, Gott vergibt uns in dem Maße, in dem wir bereit sind, anderen zu vergeben. Und er richtet uns so, wie wir über andere richten.
Wenn wir anderen und uns selbst vergeben, sind wir selbst Gott ganz nahe. Wenn wir unsere Herzen eng und blind machen und von den anderen ein Bekenntnis seiner Schuld und seiner Reue verlangen, dann entfernen wir uns von der Liebe, und somit von Gott.
Es ist ja auch so: Wir kennen die Herzen anderen nicht, aber Gott wohl. Mancher von uns kennt noch nicht einmal sein eigenes Herz. Aber Gott kennt es dennoch. Und wir sind alle so. Wir alle hegen einen Groll in uns. Viele von uns haben eine tiefe Wunde in ihren Herzen, und dann wünschen wir uns schon, daß der, der sie geschlagen hat, vor uns tritt und zugibt: "Ja, ich habe unrecht an dir getan." Doch das passiert so gut wie nie. Aber gerade dann müssen wir vergeben, um uns zu befreien. Solange wir das nicht tun, hat der, der sich an uns vergangen hat, Macht über uns, über unsere Seele. Und wir vergeuden uns an den Schmerz. Dann müssen wir zu uns sagen: "Er oder sie hat unrecht an uns getan, und das ist auch nicht meine Schuld." Und wir müssen uns selbst verzeihen, um uns frei zu machen.
Also vergebt einander, wie Christus es getan hat. Und schafft Frieden auf diesem, auf Christi Weg.
 

Donnerstag, 28. Juni 2012

DAS FREMDE GLÜCK - der Thriller "DAS ALTE KIND" von Zoe Beck


Rezension zu Zoe Beck (2010) „Das alte Kind“
Erschienen bei Bastei Lübbe, Köln, ISBN 978-3-404-16443-1
Preis: 7,99 Euro

Thriller sind Unterhaltungsliteratur, und bei Bastei Lübbe erscheint nur Schund.
Zwei falsche Behauptungen in einem Satz, beide falsifiziert von Zoe Becks Roman und Thriller „Das alte Kind“ aus dem Jahre 2010.

Im Abstand von dreißig Jahren machen zwei Frauen – die erfolgreiche Kunsthändlerin Carla und die Lebenskünstlerin Fiona – die gleiche Erfahrung. Sie werden Opfer einer Straftat, doch niemand will ihnen Glauben schenken.
Carla, erst vor wenigen Wochen Mutter geworden, war wegen einer Wundrose lange in Quarantäne und von ihrer Tochter Felicitas getrennt. Als man ihr das Kind schließlich bringt, erschrickt sie zutiefst. Das ist nicht Felicitas. Die Situation spitzt sich zu, als sich herausstellt, daß das Kind obendrein an Progerie erkrankt ist – einer seltenen genetischen Störung, die den Betroffenen in großer Geschwindigkeit altern lässt. Carla macht sich auf die Suche nach ihrer Tochter. Aber weil keiner, auch ihr Mann nicht, der sie nur aus Prestige-Gründen geheiratet hat, ihr Glauben schenkt, zerstört diese Suche ihr Leben und ihre Familie.
Fiona wacht eines Nachts mit zerschnittenen Pulsadern in der Badewanne auf. Gerade noch rechtzeitig gelingt es ihr, den Notarzt zu rufen. Sie überlebt, aber weil sie einmal in psychotherapeutischer Behandlung war, unterstellen ihr die Ärzte einen Selbstmordversuch. Keiner glaubt ihr, als sie behauptet, daß jemand einen Mordanschlag auf sie ausgeübt habe. Bis ihre Mitbewohnerin, die sich einen Sport daraus gemacht hat, Fiona zu imitieren, ermordet aufgefunden wird.
Die Schicksale der beiden Frauen sind mit einander verbunden. Sie führen zu einander auf Umwegen zu einander. Jede hat ihr eigenes Rätsel, aber sie haben auch ein gemeinsames, und als es Fiona mit Hilfe eines Freundes löst, brechen Abgründe auf.

Die Themen, die Zoe Beck in ihrem Roman mit einander verwebt, sind vielfältig. Psychische und genetische Erkrankungen, künstliche Befruchtung, Wissenschaftskriminalität, Spionage, familiäre Konflikte – es öffnet sich ein weites Spektrum des menschlichen Lebens.
So lebensnah sind auch die Figuren gezeichnet. Sie sind echt. Sie strahlen – je nachdem – Wärme oder Kälte aus. Als Leser kann man sich ihnen nicht entziehen, ihnen nicht gleichgültig begegnen. Sie haben Substanz. So wie die Geschichte auch. Substanz, ein fester Nährboden.
Dazu ist das Buch in einer sehr schönen, flüssigen und dennoch zeitgemäßen Sprache geschrieben. Zeitgemäß, aber ästhetisch. Wobei die Autorin auf wohltuende Weise allen übermodernen Schnickschnack weggelassen hat – ein Garant dafür, daß man das Buch noch ihn 20 Jahren wird lesen können.
Darüber hinaus ist das Buch Literatur. Die Autorin greift Motive auf, lässt hinein blicken in die Seelen ihre Akteure und gibt dem Leser die Möglichkeit, dazu zu lernen.
So begreift der Leser hoffentlich, daß Carlas Leben nicht zerstört wurde, weil man ihr das Kind stahl, oder weil sie meinte, daß man ihr ein fremdes Kind untergeschoben habe, sondern ihr Leben und sie selbst zerbrachen an der Kälte und Ignoranz ihres Ehemannes und der Gesellschaft, in der sie lebte.
Und das war es auch, was Fiona rettete. Fiona war gerettet in dem Augenblick, als sie einen Menschen traf, der ihr Glauben schenkte, auch wenn die Rettung nicht sofort geschah. Aber der Weg war geebnet.
Beck zeigt auch, was das häufigste Motiv ist, aus dem heraus Menschen Böses tun, bzw. anderen Böses antun: Sie tun es, weil für sie das eigene Leben von größerer Bedeutung ist als das Leben der anderen, weil ihr eigenes Glück ihnen so viel schwerer wiegt als das fremde. So handeln nicht nur die Schurken in dieser Geschichte, sondern so handelt beispielsweise auch Frederik, Carlas Ehemann, als er seine Frau opfert und in einer psychiatrischen Anstalt wegsperren läß, nur um seiner eigenen Karriere zu dienen.

Gute Literatur gibt uns immer etwas mit auf dem Weg. Was Zoe Becks Roman „Das alte Kind“ uns mitgibt, ist dies: Leben werden nicht allein von denen zerstört, die uns übel gesinnt sind und uns Böses antun wollen, sondern vor allem von denen, die uns nahe stehen, die vorgeben, uns zu lieben und uns am Ende die Hilfe verweigern.


Dienstag, 26. Juni 2012

Der Neuschwanstein-Kot Oder: Was dabei herauskommt, wenn man nur mit Wikipedia recherchiert und den Rest dazuphantasiert


Rezension zu Arno Loeb (2012) Der Neuschwanstein-Code
Erschienen bei Unsichtbarverlag, Dietdorf, ISBN 978-3-94920-4
Preis: 12,95 Euro



Wer sich schon einmal mit dem Verlagswesen befasst hat und selbst schreibt, der stellt sich und Verlegern immer wieder einen Frage: Wie muß ein Manuskript sein, damit es veröffentlicht wird.
Man bekommt dann viele kluge und nichtssagende Antworten. Es müsse ansprechend sein, es müsse in die Verlagsphilosphie passen, es müsse gut gemacht sein, gute Sprache, gute handwerkliche Arbeit. Und dann der Spruch: Ein gutes Manuskript wird auch seinen Verlag finden.

Es gibt jetzt eine neue Linie für Normalnull in der Qualität eines Romanmanuskripts. Festgelegt und beinahe sogar noch selbst unterboten hat sie der Autor und Tausendsassa Arno Loeb mit seinem „Roman“ „Der Neuschwanstein-Code“.
Auf fast 400 Seiten entwickelt der Verfasser eine Geschichte, die an Hirnrissigkeit, Zusammenhanglosigkeit und Imbezilität kaum zu überbieten ist.
Das fängt schon bei den Figuren an.
Heldin ist eine Amerikanerin, die auf Schloß Neuschwanstein als Fremdenführerin arbeitet. Leider ist sie mental etwas minderbemittelt, was sich zum Beispiel darin äußert, daß sie kein Englisch kann. So muß sie beispielsweise erst von einer japanischen Manga-Zeichnerin die wahre Bedeutung des Wortes „horny“ erfahren. Außerdem ist sie ein sehr schlichtes Gemüt und nur zu wenig rationalen Überlegungen fähig.
Die Manga-Zeichnerin ist eine von drei Japanern in der Geschichte, die anderen beiden, ihre Bruder und ihr Vater, sind – natürlich, möchte man fast schreien! – Sushi-Koch und Karate-Meister. (Vielleicht hat sie noch einen zweiten Bruder, der Ninja ist und deshalb nicht in der Handlung auftaucht.) Mit dem Karate-Meister fängt die Fremdenführerin dann auch – wieder möchte man „natürlich!“ schreien – etwas an.
Es gibt dann noch einen schrulligen Polizisten und einen kauzigen Erfinder und natürlich jede Menge homosexuelle Randfiguren. Muß ja auch so sein, denn immerhin war Ludwig II. schwul und hatte sonst nicht viel, um eine Persönlichkeit zu entwickeln.
Und es gibt auch einen Schurken, dem eine nordische Walküre zur Seite steht.
Also die Zahl der schwachsinnigen, halbentwickelten Charaktere in diesem Buch ist Legion.

Kurz zur Handlung:
Ludwig der II. habt beim Bau von Neuschwanstein den Schatz der Nibelungen gefunden und unter dem Schloß versteckt. Damit das Versteck geheim bleibt, hat er die Information mit Friedrich Nietzsche und Richard Wagner geteilt. Alle drei hatten den Teil eines Rätsels, das zusammengesetzt die Lage des Schatzes verraten sollte.
Diese Rätselteile tauchen nun wieder auf, und natürlich wollen alle den Schatz haben.
Die Jagd führt durch ganz Europa. Man schändet Cosima Wagners Grab, und als man am Ende in der Schatzhöhle zusammenkommt, ist der ganze Schatz schon weg. Der wahnwitzige Erfinder hat den Schatz auch ohne Rätsel gefunden und ihn benutzt, um seine Forschung voranzutreiben, z.B. um ein U-Boot zu bauen, mit dem er im Starnberger See herumfahren kann.

An dieser Stelle möchte ich einen Absatz aus dem Buch zitieren, um ein Beispiel für die wirre Sprache, in der es abgefasst ist, zu geben:
Sie zog den Tarnmantel, den ihr Bruno umgeworfen hatte, eng an sich. Komischerweise fiel ihr jetzt ein, dass ihr Bruno erklärt hatte, er vermutete, dass dieser Sternenstaub die herumwirbelnden Atome von Materien so anordnete, dass ein menschliches Auge genau durch die Zwischenräume der Atome blickte, wodurch der Unsichtbarkeits-Effekt entstand. Allerdings wirkte der Tarnmantel nur in einem Umkreis von höchstens fünfzig Zentimetern, meistens weniger. Und am besten in Verbindung mit der Körperwärme von Menschen. Das war ein Problem für große und dicke Menschen, hatte Bruno geschildert. Die wurden nicht ganz unsichtbar. Weil der Tarnmantel von allem Seiten wirkte, konnten Menschen  mit einem Durchmesser von einem Meter problemlos unsichtbar werden[1]. Walle schlich sich hinter die Statue des Flöten spielenden Krishna.“ (S. 361)
In dieser Sprache ist das ganze Buch abgefasst. Es ist deshalb sehr schwer zu lesen,

Man merkt: Der Autor will „abgefahren“ schreiben, was immer das bedeuten mag. Deshalb spielt auch eine Gothic-Band eine Rolle, tauchen schwule Mangas auf und hat jeder ein iPhone[2].
„Der Neuschwanstein-Code“ ist kein gutes Buch, um Zeit damit zu verbringen, einfach weil es kein gutes Buch ist.
Nichts an diesem Buch ist interessant. Die Figuren sind blaß, dümmlich und voll von Klischees. Die Handlung ist so wirr, daß ihr noch nicht einmal der Verfasser selbst folgen konnte. Die Sprache ist schlimm. Obendrein ist das Buch sehr schlecht lektoriert, voller Druckfehler und grammatischer Fehler.
Das ist sehr bedauerlich, denn man hätte viel machen können aus der Geschichte. Aber dazu hätte es Gewissenhaftigkeit und einer gewissen Bemühung seitens des Autors bedurft, die dieser leider nicht zu invenstieren bereit war.
Schade.
Eine Chance auf ein spannendes Buch vertan.

Ich rate von der Lektüre ab.

http://shop.unsichtbar-verlag.de/product_info.php?products_id=28




[1] Anmerkung: Nur um mal die Rechnung nachzuvollziehen… Ein Mensch mit einem Durchmesser von einem Meter hat einen Umfang von über drei Metern. Also „dick“ muß da schon „seeeeehr dick“ sein. Interessant wäre allerdings, was man sehen würde, wenn so ein Mensch den oben beschriebenen Tarnmantel trüge. Vermutlich seine Innereien. Also, wenn Ihnen mal ein einsamer Verdauungstrakt entgegen kommt, dann ist das vermutlich ein sehr, sehr dicker Mensch mit Tarnmantel.
[2] Hoffentlich bekommt Herr Loeb dafür einen kleinen Bonus von Apple.

Montag, 7. Mai 2012

DIE NACHT IST NICHT ALLEIN ZUM BRANDSCHATZEN DA

Rezension




Günter Krieger (2012) „Gertrudisnacht“, erschienen im Dryas Verlag Frankfurt/Main
ISBN 978-3-949855-27-5
Preis 13,80 Euro

In der Nacht vom 16. zum 17. März des Jahres 1278 fiel der Graf Wilhelm von Jühlich (1210 – 1278) in Begleitung seiner beiden Söhne in Aachen ein, um in der Stadt für den deutschen König Rudolf I. von Habsburg (1218 – 1291) fällige Steuern einzutreiben. Die Stadt aber leistete Wiederstand und trieb den Grafen und seine Gefolgschaft hinaus. Dabei wurden der Graf und seine Söhne erschlagen – entweder von dem durch eine Sage berühmt gewordenen wehrhaften Schmied oder durch mehrere Metzger. So genau weiß man das nicht mehr.
Dieses Ereignis ist nicht mehr als eine Fußnote der Geschichte, dennoch wählte es der Autor Günter Krieger als Vorlage für seinen historischen Roman „Gertrudisnacht“.

Günter Krieger, Jahrgang 1965 und gebürtig aus Langerwehe stammend, ist Verfasser zahlreicher historischer Romane und Mitherausgeber von einer Handvoll Jugendbücher. Mit diesem Wissen im Hinterkopf überrascht es einem umso mehr, daß sein Roman „Gertrudisnacht“ so vollkommen mißlungen ist.

Die Gertrudisnacht selbst, also der Versuch des Grafen von Jühlich, Aachen zu plündern, spielt nur eine Nebenrolle in diesem Buch. Erst auf den letzten 50 Seiten ist man endlich in Aachen angekommen. Man – das sind in diesem Falle eine ganze Handvoll Leute, die auf mehr oder weniger verschlungenen Pfaden ihren Weg in die freie Reichsstatt finden. Und diese Leute sind ganz unterschiedlicher Herkunft.
Da wäre zum Beispiel Rupert, der umtriebige und triebgesteuerte Reliquienhändler, der der Inquisition in die Hände fällt, weil er Schweineborst als Barthaare des Teufels verkaufen wollte. Er hangelt sich von Stadt zu Stadt und von Bett zu Bett, und am Ende wird er natürlich gerettet und findet seine große Liebe.
Ruperts große Liebe – das ist Irma. Irma hat auch so einiges durch. Zuerst muß sie erleben, wie bei einer Brandschatzung ihr erster Liebhaber vor ihren Augen erschlagen wird. Sie kann fliehen, findet einige Tage in einem Kloster Unterschlupf. Als sie weiter wandert, natürlich will sie nach Aachen, fällt sie unter die Räuber und verliebt sich in Armin, einen der Wegelagerer. Wie es das Schicksal so will, wird auch Armin vor ihren Augen erschlagen. Doch das ist am Ende gar nicht mehr so tragisch, denn Rupert ist ja Armins Zwillingsbruder, und der – so hofft der mitfühlende Leser – darf hoffentlich noch ein paar Jahre leben.
Und dann ist da noch Bernhardt, ein Novize, der wegen zwanghafter Onanie aus dem Kloster geworfen wurde. Aber Bernhardt lernt, sich zu beherrschen und immer genau dann nicht zu Stelle zu sein, wenn er gebraucht wird.

Überhaupt geht es in dem Buch ganz gut zur Sache. Jeder ist ständig irgendwie mit der körperlichen Liebe befasst: sei es nun allein (Mönch Bernhardt) oder im Schweinestall (Mönch Bernhardt) oder mit der Tochter des Metzgers (Rupert) oder der Tochter des Rabbis (Rupert) oder der Tochter des Apothekers (Rupert) oder mit Irma (diverse Soldaten, Mönch Bernhardt, Rupert) oder mit Rupert (Irma, Tochter des Apothekers, Tochter des Rabbis, möglicherweise auch Mönch Bernhardt). So wundert man sich, daß die Handlung überhaupt irgendwie voran geht.
Aber wie gesagt: Handlung ist nicht viel. Nur irgendwelche zufälligen Ereignisse wurden von Autor so zusammengestrickt, das am Ende alles in Aachen zusammenläuft.

Dabei legt der Autor eine bemerkenswerte Blindheit gegenüber den Mechanismen des menschlichen Seelenlebens an den Tag. Oder er hat all seine Figuren als Borderliner angelegt.

Das Buch liest sich sehr mühsam. Die Sprache will altertümlich sein, aber es gelingt ihr nicht. Immer wieder bricht ein plattes Alltagsdeutsch durch und zerstört den letzten Rest von Ästhetik, den das Buch vielleicht noch hätte haben können.
Nun, man könnte über das Buch herzlich lachen, wenn seine Verfehlungen nicht so ernste Folgen hätten. Es wird nämlich hier Geschichte verfälscht dargestellt und ein völlig verfehltes Bild des Mittelalters geliefert. Ein Bild, wie es selbst für Mittelaltermärkte nicht zu ertragen wäre.

Daß es mit dem Buch nicht weit her sein kann, verrät schon das Titelbild. Da sitzt eine schlecht geschminkte, blonde Dorfschranze da in einem Kleid, das mittelalterlich sein soll und ihr mindestens drei Nummern zu groß ist, und schaut lustlos und fast schon ein wenig angewidert in dem Leser entgegen.
Nein, das ist kein gutes Buch. Es ist noch nicht einmal eine unterhaltsame Lektüre. Es ist ein Buch, das sich dahinschleppt wie ein endloses Vorspiel, und der Höhepunkt bleibt aus. Trotz all der sexuellen Eskapaden, in denen sich die Protagonisten ergehen – am Ende ist es nur ein Coitus Interruptus[1].
Und der wehrhafte Schmied, der ja angeblich so eine große Rolle in jener blutigen Nacht spielte, er ist nur ein Schatten. Er hätte einer der Protagonisten sein müssen. Und sei es auch nur als eine Gruppe von Metzgern.
Der Autor hat versagt. Er hat sein Ziel nicht erreicht. Der Leser erfährt nichts über diese Gertrudisnacht. Er erfährt auch nicht, warum das so ein besonderes Ereignis hätte sein können. Und es wird ihm noch nicht einmal das Vergnügen gegönnt, sich selbst bei der Lektüre in die Welt des Mittelalters hineinzuversetzen.

Es verwundert doch sehr, daß ein Verlag ein solches Buch tatsächlich publiziert. Ebenso verwundert es, daß es sogar in der Reihe Edition Quo Vadis erschienen ist. Der Autorenkreis Quo Vadis hat sich die Förderung des Historischen Romanes auf die Fahnen geschrieben. Warum er diesen Roman förderungswürdig erachtete, läßt sich allerdings schwer nachvollziehen.

Auf der Rückseite des Buches ist zu lesen, daß 50 Cent von jedem verkauften Buch als Spende an den Verein zur Restaurierung des Aachener Domes fließen:
Vorschlag der Rezensentin: Spenden Sie dem Aachener Verein lieber 5 Euro und geben Sie den Rest für einen schönen Roman von Robert Schneider oder Viola Alvarez aus.


Der Verlag: http://www.dryas.de/ 


Blogg dein Buch: http://www.bloggdeinbuch.de/








[1] Die Rezensentin entschuldigt sich für die genitalen Vergleiche, aber sie nimmt damit nur den Duktus des Buches auf.

Donnerstag, 29. März 2012

MOZART UND KEIN ENDE (Rezension)


Matt Beyon Rees „Mozarts letzte Arie“ Roman – aus dem Englischen von Klaus Modicke
erschienen bei C.H. Beck oHG, München 2012
ISBN 978-3-406-62994-5
Preis 17,95 Euro


Wolfgang Amadeus Mozart ist einer der bekanntesten und meist gespielten Komponisten unserer Zeit. Zu Lebzeiten galt er erst als Wunderkind, später mußte er sich mehr schlecht und recht als einer der ersten freischaffenden Musiker durchs Leben schlagen. Er starb jung und hinterließ seiner Witwe neben zahlreichen Manuskripten einen enormen Schuldenberg. Viele Künstler sterben in jungen Jahren. Und das hinterläßt immer eine gewisse Unzufriedenheit, verbunden mit dem Gefühl: Da kann doch irgendwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Viele dieser Jungverstorbenen wurden posthum in ein Mordkomplott verwickelt, das mal mehr, mal weniger plausibel erscheint. Namen fallen in dieser Liste wie Heinrich Heine, Friedrich Schiller, Oscar Wilde, Ludwig II. von Bayern oder Marilyn Monroe.
Natürlich ranken sich solche Geschichten auch um W. A. Mozart.
Der Dramatiker Sir. Peter Shaffer verdächtigte seinerzeit Antonio Salieri, und Milos Forman setzte dessen Theaterstück in seinem grandiosen und achtfach Oscar-gekrönten Spielfilm „Amadeus“ ein filmisches Denkmal.
Auch Matt Beynon Rees nimmt sich in seinem Roman „Mozarts letzte Arie“ dieses Stoffes an. Er dichtet um Mozarts Ableben eine Verschwörung, die zwischen Freimaurerei, Revolutionsgebaren, Staatsstreich und Hochverrat hin und her schwankt. Er zieht also alle Register. Allerdings wird er sich auf einer Verfilmung durch Milos Forman eine Weile warten müssen.
Kurz zur Handlung: Die Geschichte beginnt im Jahre 1792 – eine Woche nach Mozarts Tod. Maria Anna Walburga Igantia Berchthold von Sonneburg, geb. Mozart und genannt „Nannerl“ erhält einen Brief ihre Schwägerin Constanze, der sie über das Hinscheiden ihres Bruders Wolfgang informiert. Nannerl ist entsetzt. Der Brief ist wirr und ein wenig überdramatisch. Constanze schreibt von finsteren Ahnungen, die die letzten Lebenstage ihres Ehemannes umwoben hätten. Sogar von einem Mord durch Gift ist die Rede. Nannerl faßt einen schnellen Entschluß: Natürlich muß sie sofort nach Wien reisen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Grund ist ihr schlechtes Gewissen. Seit dem Tod ihres Vaters Leopold, der sie zur Alleinerbin und zu einer wohlhabenden Frau gemacht hat, hat sie mit ihrem Bruder kein Wort mehr gewechselt. Und nun ist er nicht mehr.
In Wien angekommen, absolviert sie zunächst den Antrittsbesuch bei ihrer Schwägerin, und dann trifft sie alles, was Rang und Namen hat. Als sie bei Emmanuel Schikaneder zu Mittag ist, trifft sie auf den verwirrten Schauspieler Franz Gieseke, der etwas von Freimaurerei schwafelt. Nannerl hat da bereits herausgefunden, daß ihr Bruder eine eigene Loge – „Die Grotte“ – gründen wollte. Sie trifft später auf Magdalena Hofdemel, die am Tag von Mozarts Beisetzung von ihrem Mann verstümmelt wurde, bevor dieser sich mit einem Rasiermesser selbst die Halsschlagader durchtrennte. Nach einem Treffen mit dem charismatischen Baron von Swieten, der noch ein ganz anderes Interesse an Nannerls Person hat, wird die Heldin beinahe zum Opfer eines Unfalls. Bei einer Aufführung der „Zauberflöte“, um die sich viele der Geheimnisse ranken, wird Gieseke ermordet, nachdem er vor Nannerl und van Swieten bekannte, daß er Mozarts Mörder kenne.
Natürlich wird der Mörder entlarvt. Dazu spielen Nannerl und van Swieten, nachdem sie einander sehr nahe gekommen sind, eine kleine Scharade vor dem Kaiser. Nannerl verkleidet sich als ihr Bruder, und man inszeniert eine Szene aus Don Giovanni – den Besuch des steinernen Gastes.
Wenn man das Buch nach beendeter Lektüre weglegt, befällt einen das unangenehme Gefühl, daß dies doch ein wenig zu viel des Guten war. Alle möglichen Verschwörungstheorien werden zitiert. Mozarts mysteriöse Reise nach Berlin. Der Preußen-König als Freimaurer, der die österreichische Monarchie unterwandern will. Polizei und Zensur. Auftritte in der Unterwelt. Nannerl, die noch immer die große und unübertreffliche Pianistin ist und gleich am Tag nach ihrer Ankunft ihn Wien vor erlesenstem Publikum konzertiert. Sogar Maestro Salieri darf sich eines Gastauftrittes erfreuen.
Aber das Ende bleibt dunkel. Und dem Leser werden die Antworten, die er erhofft, vorenthalten.
Natürlich. Rees schreibt keine historischen Tatsachen. Die historischen Figuren sind ihm nur Schablonen. Spielfiguren, aus denen er seine eigene Geschichte zusammenfasst. Nannerl war nie in Wien, und sie hat auch nie ihren Ehemann Johann Berchthold von Sonnenburg mit Baron van Swieten betrogen. Mozart kam nicht mehr dazu, seine Loge „Die Grotte“ zu gründen, deren Besonderheit nach Rees’ Auffassung darin bestand, daß auch Frauen der Zutritt gewährt werden sollte. Zeuge ist für ihn die Prinzessin Pamina.
Aber sei es drum.
Der Roman „Mozarts letzte Arie“ ist eine seichte und unterhaltsame Lektüre. Obwohl Milos Forman die Zeitreise in Mozarts Wien besser gelungen ist.
Literarisch hat der Roman nichts zu bieten, was ihn zu etwas Besonderen machen würde. Und mit 17,95 Euro ist der Preis für ein Taschenbuch unangemessen hoch.
Aber wer weiß.... Vielleicht kommt ja ein Sammler von Mozart-Devotionalien auf seine Kosten.












Mittwoch, 8. Februar 2012

ORTE JENSEITS DER ZEIT - Paul Coelhos neuer Roman "Aleph"


Rezension zu Paul Coelhos Roman „Aleph“
von Ilka Lohmann

Coelho, Paul (2012) Aleph, Roman (aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann)
erschienen bei Diogenes Verlag AG, Zürich, Preis 19,90 Euro
ISBN: 978-3-257-06810-8


Hin und wieder erlebt man im Leben Augenblicke der Stagnation, die plötzlich und unerwartet auftreten, angekündigt durch nichts. Ob es ein Wechsel des Windes ist oder eine veränderte Hochdrucklage. Vielleicht hat die Sonne auch nur zu lange oder zu selten geschienen. Man wacht mit einem Male auf und ist unzufrieden und fragt sich, warum. Dieses Warum – es kommt daher, weil ja alles in Ordnung ist. Man hat ein gutes, geruhsames Leben, in Beruf und Partnerschaft läuft es. Gesundheitlich kann man sich auch nicht beklagen.
Wenn da nur nicht die kleine Stimme wäre, die immer und immer wieder fragt: Wozu nützt dir das alles? Was hast du aus deinem Leben gemacht?

So ergeht es dem Ich-Erzähler in Paul Coelhos Roman „Aleph“, der möglicherweise mit dem Autor identisch ist. Er ist ein international erfolgreicher Schriftsteller, hat finanziell ausgesorgt, kann sich künstlerisch und kreativ verwirklichen, führt seit 25 Jahren eine gute Ehe. Und dennoch macht er sich Sorgen.
Da bekommt er Besuch von J., seinem spirituellen Lehrer, der zu ihm sagt: „Laß dich auf eine Reise ein.“
Und der Erzähler tut es.
Er begibt sich auf eine weltweite Lesereise, die ihn am Ende nach Asien führt, die ihn mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok bringen soll. Und auf dieser Reise lernt er Hilal kennen. Hilal ist eine Künstlerin, eine junge Frau Anfang 20, und stammt aus Jekaterinburg, wo sie im Philharmonischen Orchester die Erste spielt. Auch sie könnte zufrieden sein, ist es aber nicht. Gleich zu Beginn berichtet sie davon, wie sie als Kind Opfer eines sexuellen Missbrauches wurde. Der Täter war ein Nachbar. Seitdem ist sie gefangen in einem Käfig aus Scham und Schuld, der sie hat unfähig werden lassen, normale Beziehungen einzugehen, unfähig, der Liebe es eines Mannes und einem Mann mit Liebe zu begegnen. Aber sie fühlt zu dem Erzähler eine tiefe Verbundenheit. Sie kennt seine Bücher, und sie ist nur nach Moskau gekommen, um ihn zu treffen.
Sie sagt, sie kenne sein Problem und sie könne ihm helfen. Sie sei gekommen, ein Feuer für ihn zu entzünden.
Sie will den Erzähler auf seiner Reise nach Wladiwostok begleiten, und er, überwältigt von ihrer Zielstrebigkeit, ihrem Durchsetzungsvermögen und ihrer Kraft, stimmt schließlich zu.
Auf dieser Fahrt geschieht etwas. Sie gehen im Zug den Gang neben den Abteilen entlang, halten zufällig an einer Stelle inne, und da passiert es: Der Erzähler hat eine Vision. Er sieht die Vergangenheit, das Zeitalter der Inquisition, und er erlebt einen Inquisitor, der einen Brief schreibt. Er sieht auch die junge Frau, die ihn an über die Zeitalter hinweg, durch die Jahrhunderte hindurch, anklagend anschaut.
Es ist die Vision aus einem früheren Leben. Damals haben die beiden einander schon gekannt, und er hat ihr einen unglaublichen Schmerz zugefügt.
Das ist das Rätsel, das er lösen muß, damit sie beide, er und Hilal, Frieden finden.
In einer Kirche von Jekaterinburg bringt er sie dazu, ihm zu vergeben. Aber erst später er fährt er die volle Tragweite dessen, was geschehen ist.
Der Erzähler erfährt, daß er an der jungen Frau vor Jahrhunderten ein Verbrechen begangen hat, das so furchtbar ist, daß viele Leben vergehen mußten, um es zu sühnen.
Doch beide wagen es.
Und sie gewinnen.

„Aleph“, der neueste Roman des brasilianischen Erfolgsautors Paul Coelho, ist ein sehr besonderes Buch. Selten werden Texte wie dieser veröffentlicht. Es ist ein Buch über Magie und Mystik, das sich aber nicht vom Leben verabschiedet, sondern sich verortet in der Wirklichkeit, ohne dabei die andere Wirklichkeit zu verleugnen.
Das Aleph ist ein Punkt jenseits von Raum und Zeit, ein Ort der Kraft, an dem alle Ströme und Mächte zusammen fließen. Es ist der Ort, der es Hilal und dem Erzähler ermöglicht, über sich hinaus zu treten. Es ist ein Ort, der jedem von uns begegnen kann. Ein Ort, der uns lehrt, daß wir nicht nur dieses eine Leben sind, das uns oftmals so klein und unbedeutend dünkt.
Kein Leben ist unbedeutend, das sagt Coelho uns in diesem Roman, denn jedes Leben ist einzigartig und endlos. Jedes Leben ist so allumfassend wie das Universum selbst. Und die Weisheit, es zu bestehen und nicht zu vergeuden, ist für jeden von uns erreichbar, wenn wir es nur wagen, die Hand danach auszustrecken.

Auch literarisch erfüllt dieser Roman höchste Ansprüche. Die Sprache ist schlicht  und poetisch zugleich. Und so voll und reich ist der Text an Weisheit und Geschichten, Gleichnissen und Belehrungen, das man ihn ohne Ende zitieren möchte.
Es ist ein gutes Buch für unsere Zeit, die sachlich geworden ist, so konkret, die sich so sehr dem Wunderbaren entfremdet hat.
Dieses Buch soll all jenen ans Herz gelegt werden, die erfüllt sind von der Spirituellen Sehnsucht nach dem Sinn und nach einer Wirklichkeit, die größer als wir alle ist. Denn in diesem Roman macht Coelho uns Hoffnung.
Er macht uns Hoffnung darauf, daß wir sehen können und wissen werden, wenn wir es nur wollen, und wenn es Zeit ist.