Früher gab es mehr Krähen. Ich erinnere mich an Tage, in denen Krähenschwärme in nahezu endloser Zahl über den Himmel zogen und ihn verdunkelten. Als Kind fürchtete ich mich vor ihnen. Ich hatte Geschichten gehört von Krähen, die Menschen, vor allem kleine Kinder, bei lebendigem Leibe zerstückelt hatten.
Heute weiß ich, daß diese Geschichten unsinnig waren. Krähen tun keinem Menschen etwas zu leide, auch wenn uns Hitchcock etwas anderes erzählt. Aber "Die Vögel" sind doch nur ein Film. Das ist keine Wirklichkeit.
Wenn Krähen uns Geschichten erzählen würden, berichteten sie von Männern mit langen Stöcken, aus deren Enden Feuer empor schießt. Kugeln, die viele ihrer Artgenossen das Leben kosten und die ihre Zahl auf unserem Planten so reduziert haben, daß nun nur noch ein kümmerlicher Schwarm von kaum fünfzig Vögeln über unserem Feld seine Runden zieht.
Der Unterschied zwischen den Geschichten der Vögel über die Menschen und den Geschichten der Menschen über diese Vögel wäre der: Die Geschichten der Krähen wären wahr.
Vielleicht erzählen sie so einander vom Tod ihrer Gefährten, wenn sie auf den Bäumen sind und krächzen.
Krähen sind klug. Wissenschaftler haben herausgefunden, daß Krähen, wie Raben und Elstern und andere Rabenvögel, über Ich-Bewußtsein verfügen. Sie haben also ein Empfinden dafür, wer sie sind. Sie wissen um sich selbst, um ihr Leben, ihre Endlichkeit und ihren Tod.
Mehrfach grausam also ist der Tod, der ihnen angetan wird.
Aber die Menschen sehen in den Krähen ihre Feinde. Sie meinen, ein Recht zu haben, sie zu töten. Sie hängen noch den alten Ammenmärchen nach, sehen vielleicht in Krähen die Vorboten des Unheils. Der Bauer sieht seine Saat bedroht und erschießt die Krähen.
So viele Vögel, die sterben müssen, weil sie dem Menschen im Wege sind.
Und der Mensch meint, er sei wichtiger als diese Vögel. Deshalb darf er sie nach Belieben töten.
Als Kind hatte ich Angst vor den Krähenschwärmen. Heute bin ich kein Kind mehr und sehne mich nach ihnen zurück: Nach diesen wundervollen, rätselhaften, sagenumwobenen Vögeln. Und ich wünschte, sie würden noch einmal, so wie früher, den Himmel über den Städten mit ihrem Gefieder verfinstern.
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